Interview mit einem Senioren – heute: Hildegard Gerdau

In regelmäßigen Abständen führt unsere Redaktion Interviews mit Menschen, die nicht im Rampenlicht stehen. Und darum umso authentischer aus ihrem Leben erzählen. Heute hatten wir das Glück die Hamburgerin Hildegard Gerdau für uns zu gewinnen.

Hallo Frau Gerdau, Sie werden im Frühjahr 80 Jahre alt. Wird das ein denkwürdiger Geburtstag für Sie?

*lacht* das ist eine Frage – eigentlich nicht, nö also ich mach mir da nicht so den Kopf drum… 80 ist eine Zahl. Ich mach mir da kein Kopf. Andere meinen sie müssen verrücktspielen, nur weil sie ein Jahr älter geworden sind.

Was ist in den letzten 80 Jahren passiert? Wie war Ihr Leben im Schnelldurchlauf?

Meine Kindheit war schön, ich bin auf dem Land aufgewachsen und das war schön. Wir waren 8 Kinder. Die ganze Familie hat in einem Raum geschlafen. Je mehr Kinder du hast – die wachsen einfach anders auf. Wenn du mehrere Kinder hast kannst du dich mit ihnen nicht so beschäftigen. Nicht zu Unrecht sagt man: ein Einzelkind wird mehr verwöhnt.

Es gab aber auch dunkle Seiten. Wir hatten keinen Respekt vor Vater, wird hatten Angst. Der hat nicht nur geschlagen, sondern auch getreten. Mit Füßen, wenn du schon auf dem Boden lagst. Der war sehr brutal. Ich oft ein blaues Auge gehabt, habe Prügel bekommen und wusste gar nicht wofür. Das verzeih ich ihm nie. Kann mich auch nicht erinnern, dass mein Vater uns auf den Arm genommen hat, uns was erzählt hat. Wir mussten immer stramm am Tisch sitzen und die Gusche halten.

Acht Kinder – respektabel! Damals war Verhütung kein Thema, oder?

Gab es damals noch gar nicht. Außerdem hat man sich um Familienplanung nicht so die Gedanken gemacht. Da hat sich mit so vielen Kindern eine Eigendynamik entwickelt, die Kinder waren mehr sich selbst überlassen. Mutter musste früh aufstehen um die Kühe per Hand zu melken. Da hat sie uns einfach alleine gelassen.

Ich bewundere meine Mutter bis heute, die war ein Stadtmensch. Gelernte Krankenschwester. Ist gegen den Wunsch ihrer Eltern aufs Land gegangen und hat bei einer Großfamilie ausgeholfen. Dort hat sie meinen Vater kennengelernt.

Ihre eigene Ehe lief nicht so rund. Wie haben Sie Ihre Scheidung erlebt?

Scheidung, das macht einen stark. Da hab ich kämpfen müssen, ich hab gewonnen und das war gut. Ja, ich hab endlich erkannt dass ich selber auch Interessen hab, welche Farben ich gerne mag, das ich gerne ins Theater gegangen bin. Weil ich nur für andere da war, für Familie, für Haus und Mann. Ich hab mich immer unterbuddeln lassen… ich hab zu allem Ja und Amen gesagt, aber wir sind so erzogen worden. Wir haben zu Hause auch nichts sagen dürfen, haben nur Schläge bekommen.

Heute habe ich schon gelernt mich zu wehren. Es klappt nicht immer, aber ich habe mir geschworen mich immer zu wehren. Wenn der Mann noch so schön ist, ich lass mich nicht mehr unterbuttern.

Zu dieser Erkenntnis sind Sie recht spät gekommen. Ist man als älterer Mensch in der besseren Ausgangslage für weise Entscheidungen?

Es hat auch seine Nachteile. Wenn man älter ist, dann schaltet man einfach viel zu viel Gehirn ein. Wenn man jung ist sieht man nur den Partner, nur die Liebe. Wenn man älter wird, wirst du anders. Wie soll ich es ausdrucken. Es geht schon los wenn ich mir heute nen Partner suchen würde, hätte ich an jedem etwas auszusetzen. Das tust du so intensiv wenn du älter bist, du denkst einfach anders.

Ich ertapp mich heute so, ich beobachte viel, bei fast jedem fällt mir etwas auf. Als ich jünger war, hatte ich das nicht.

Haben Sie schon Altersweisheiten für uns?

Immer nen Schirm dabei haben. *lacht* Jedes Alter hat seinen schönen Seiten und seine schlechten Seiten. Wenn immer alles rosarot wäre, wäre das Leben ja auch langweilig. Auch in der Partnerschaft, wenn man sich nach einem Streit wieder verträgt.

Werden wir kurz tagespolitisch. Wie gehen Sie mit der aktuellen Flüchtlingskrise um?

Die Flüchtlinge können mir leidtun, denen soll man auch helfen. Aber was mich daran stört: dass alle kommen. Selbst die wo auch kein Krieg ist. Aber die Frauen und Kinder können einem leidtun, in Hallen mit 1000 Leuten zusammen.
Wenn ich so an meine Jugend denke: Damals als die Flüchtlinge kamen, ich sehe sie noch kommen. Wir haben damals natürlich nicht den Ernst der Lage begriffen als Kinder. Die Flüchtlinge galten als Schmarotzer. Als Diebe. Mein Vater hat sie davongejagt, meine Mutter wiederum hat Ihnen sogar heimlich noch Wurst zusteckt. Damals waren die Flüchtlinge Deutsche aus Ostpreußen. Wir mussten alle etwas enger zusammenrücken.

Noch ein aktuelles Thema: Was sagen Sie zur zunehmenden Technisierung der Gesellschaft (Digitalisierung)?

Einerseits finde ich es gut, aber was mich daran stört, dass viele schon süchtig sind. Das stört mich daran, dass Jugendliche nur dieses Ding im Kopf haben. Ich glaube manchmal die können nicht mehr denken. Finde aber hochinteressant was man damit alles machen kann.

Und jetzt mal Hand aufs Herz: Was war das peinlichste, was Ihnen jemals passiert ist?

Auf Rügen. Wir waren Essen bei Bauer Lange. Wir wollten erst Gans essen. Jürgen, Günter und Magdalene waren auch dabei. Anstelle von Gans gab es aber Eisbein. Ich hab mein Eisbein verdrückt und auch große Stücke von Erika. Es war so lecker. Daraufhin sind wir in ein Lädchen. Plötzlich musste ich ganz dringend aufs Klo. Doch als ich auf Toilette war, war es schon in der Hose. Es hat gestunken. Habe mich ganz ausgezogen, Schlüpfer in die Mülltonne gedrückt. Wir waren gerade erst angekommen. Habe mich dann trotzdem direkt aus dem Staub gemacht.

Welche Werte waren in Ihrer Jugend wichtig?

Pünktlichkeit war das A & O, man musste sich auf die Menschen verlassen können. Ordnung war auch wichtig, das ist mir bis heute wichtig.

Was hatte Tradition?

Regelmäßig Mahlzeiten einhalten, Sonntagsnachmittags Kaffee auf der Terrasse, im Winter am Kamin Tee trinken, Spaziergang & Essen gehen.

Welche Ziele und Träume haben Sie noch?

Dass ich noch ein bisschen leben kann und dabei auch gesund bleib. Sonst bin ich eigentlich wunschlos glücklich. Ich bin viel gereist und irgendwann hatte ich schlagartig keine Lust mehr aufs Reisen.

Wofür geben Sie Ihr Geld so aus?

Klamotten, Nahrungsmittel, Enkelkindern was zustecken, Sparen, manchmal eine neue Anschaffung. Ich verbrauche meine Rente allein ja nicht, weil ich mietfrei wohne.

Das ganze Land lauscht Ihnen, was würden Sie ihm mitteilen?

Ganz ehrlich, da bin ich gleichgültig geworden. Was soll ich noch versuchen zu ändern. Da würde mir so spontan nichts eingefallen. Vielleicht das Menschen sich vertragen, das es keinen Krieg gibt. Dass Menschen sich nicht vertragen können ist eigentlich schlimm, oder? Die Menschen zanken sich ja sogar im Kleinen.

Wie meinen Sie das?

Häufig hängt das mit dem Glauben zusammen, denke ich. Da wird’s glaub ich immer Krieg geben. Ich glaub die werden sich nie vertragen. Das ist auch das was ich nicht versteh. Die Religiösen sind so fromm – warum töten sie dann? Wie passt das zusammen?

Und warum „zanken die Menschen sich auch im Kleinen“?

Fängt ja schon in der Partnerschaft an oder bei Nachbarn. Warum, weiß ich nicht. Das verstehe ich nicht. Überwiegend ist es glaube ich Neid. Oder Eifersucht bei Partnern. Alltagsstress bei Berufstätigkeit und Kindern.

Was sollten die Menschen heute anders machen als früher?

Heute ist vieles schön, wenn ich es mit meiner Zeit vergleich. Ich finde vieles aber auch nicht so schön. Zum Beispiel Aufklärung: es geht schon in der Schule los.

Dass sich das Ganze irgendwie verändert ist ja ok. Man kann ja nicht da stehen bleiben wie damals zu meiner Zeit. Aber manchmal vermisse ich die Tante Emma Läden. Damals war das gemütlich. Entspannt Gespräche führen. Heutzutage geht es zack zack und man ist schon wieder raus.

Frau Gerdau, wie steht es also um die Menschheit?

Die Entwicklung geht immer weiter. Damals dachte man „Mondflug? Die spinnen wohl!“. Doch dann ging es doch. Es geht einfach immer weiter.

Die Gefahr besteht, dass die Menschen süchtig werden. Faul werden. Der Fortschritt bringt die Menschen nicht immer weiter.
Aber es ist wie es ist, man muss es nehmen, wie es kommt.

Frau Gerdau, vielen Dank für das Gespräch.


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Die Kommentare und Meinungen unserer Leser (Leserbriefe)

  1. Hanz vong Hinten kommentierte am 22. November 2018 at 13:39

    Ist vong der niceigkeit her oberste Schublade

  2. Yannic kommentierte am 12. September 2017 at 7:50

    Richtig toll.
    hat mit sehr für mein schulprojekt geholfen
    Sexyen dank

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