Interview mit Dirk Neumann von der IG Metall: “Der wahre Konflikt in unserer Gesellschaft verläuft zwischen den verschiedenen Einkommens- und Vermögenssituationen”

Interview

Die Rente wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schlüsselthema bei den anstehenden Bundestagswahlen 2017 sein. Denn in Deutschland ist ein Diskurs über den Zustand der gesetzlichen Rentenversicherung entbrannt, der immer wieder von neuen, besorgniserregenden Zahlen befeuert wird. Unsere Redaktion will daher den Plänen der einzelnen Streitparteien auf den Grund gehen. Heute stellt sich Dirk Neumann, politischer Sekretär im IG Metall-Vorstand, unserem Interview.

Dirk NeumannIG Metall LogoZur Person:
Seit 2010 beschäftigt sich Dirk Neumann intensiv mit Fragen der Alterssicherung – zunächst in der Abteilung Sozialpolitik beim DGB Bundesvorstand. Seit 2015 ist der studierte Sozialwissenschaftler als politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall für die Rentenpolitik zuständig. Darüber hinaus ist er ehrenamtlich in der Selbstverwaltung der Deutschen Rentenversicherung aktiv.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrter Herr Neumann, wir erhalten nahezu täglich Zuschriften und Kommentare von Bürgern, die mit dem deutschen Rentensystem in seiner jetzigen Form unzufrieden sind. In einer Umfrage unter unseren Lesern haben 71 Prozent das deutsche Rentensystem mit den Schulnoten “5” oder “6” abgestraft. Kann man hier von berechtigtem Unmut sprechen oder fehlt es den Leuten eher an Informationen und Vergleichswerten? So schlecht schneidet unserer Sozialstaat im internationalen Vergleich doch gar nicht ab?

Neumann: Auch die IG Metall hat im Frühjahr durch Infratest repräsentativ untersuchen lassen, welche Erwartungen die Menschen von ihrer gesetzlichen Rente haben. Das Ergebnis: Rund zwei Drittel gehen davon aus, eher nicht oder überhaupt nicht gut von der späteren Rente leben zu können. Besonders pessimistisch sind die Jüngeren zwischen 18 und 34 Jahren. Von ihnen schauen 75 % mit großer Sorge auf ihre Alterssicherung. Das ist die Folge einer Rentenpolitik, bei der die Weichen falsch gestellt wurden. Nicht mehr die angemessene Sicherung des Lebensstandards im Alter, sondern möglichst niedrige Beitragssätze für die Arbeitgeber ist die große Leitlinie – flankiert von einer teilprivatisierten Alterssicherung an unsicheren Kapitalmärkten. In der Folge sinkt das Rentenniveau immer weiter ab und gleichzeitig sollen die Menschen – Stichwort „Rente mit 67“ oder gar 69, 70, 73 – immer länger arbeiten.

Vor diesem Hintergrund kann ich den Pessimismus grundsätzlich nachvollziehen. Ich will aber auch dazu aufrufen, sich für eine Stärkung der gesetzlichen Rente einzusetzen; für einen grundlegenden Strategiewechsel, der wieder verstärkt die Leistungsseite in den Blick nimmt.

Infomagazin Seniorenbedarf: Ist das System einer gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren in Anbetracht des demografischen Wandels denn überhaupt noch sinnvoll? Nach pessimistischen Schätzungen ja soll schon Mitte dieses Jahrhunderts ein Arbeitnehmer fast alleine für einen Rentner aufkommen müssen.

Neumann: Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, dass einzig die gesetzliche Rentenversicherung von der demografischen Entwicklung beeinflusst wäre. Dabei gilt das für kapitalgedeckte System ebenfalls. Nun können die Kosten der Alterung nicht einfach wegreformiert werden. Was wir spätestens seit der Jahrtausendwende aber erleben, ist eine verteilungspolitische Schieflage. Denn die Kosten werden zunehmend den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern allein aufgeladen. Während der Beitragssatz der Arbeitgeber zur Rentenversicherung per Gesetz bis 2030 begrenzt ist, sollen die Beschäftigten immer größeren Lücken hinterhersparen. Doch damit sind viele überfordert. Daher setzt die IG Metall auf den Neuaufbau einer solidarischen Alterssicherung.

Infomagazin Seniorenbedarf: Mit der Flexi-Rente will die Bundesregierung jetzt den früheren Übergang in eine Teilrente ermöglichen und generell Anreize für längeres Arbeiten schaffen. Kritiker bemängeln, dass besonders Menschen mit körperlich herausfordernden Berufen davon kaum profitieren, da sie schon vor 63 Jahren kaum noch berufsfähig sind. Geht die Flexi-Rente an den Bürgerinteressen vorbei?

Neumann: Das Problem an der Flexi-Rente ist aus meiner Sicht, dass sie nur wenige Verbesserungen für diejenigen bringt, die vor der Regelaltersgrenze von zukünftig 67 Jahren nicht mehr können. Von flexibler Teilrente und höheren Hinzuverdienstmöglichkeiten etwa wird höchstens ein Bruchteil profitieren können. Wichtig wäre daher eine realistisch in Arbeit erreichbare Regelaltersgrenze.

Darüber hinaus brauchen wir einen Werkzeugkasten mit passgenauen Optionen für den Übergang in die Rente – etwa bessere Rahmenbedingungen bei der Altersteilzeit und eine vorgezogene abschlagsfreie Altersrente nach besonders langjähriger Versicherungszeit auch für Jüngere. Und schließlich müssen wir mehr für diejenigen tun, die aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig raus müssen. Hier sind weitere Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente dringend geboten.

Infomagazin Seniorenbedarf: In Deutschland wird in letzter Zeit viel von den “drei Säulen der Altersvorsorge” gesprochen. Insbesondere liberal orientierte Parteien setzen neben gesetzlicher und betrieblicher Rente auf eigenverantwortliche Privatvorsorge. Ist das die Zukunft? Hat uns die Bankenkrise nicht gezeigt, welche Unsicherheiten existieren, wenn Geldanlagen von Privatunternehmen gemanagt werden?

Neumann: In der Tat irritiert der Ruf nach mehr Privatvorsorge in Zeiten extrem niedriger Zinsen. Schließlich ist es die gesetzliche Rentenversicherung, die gestärkt aus der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise ab 2008 herausgekommen ist. Die Einnahmesituation ist gut, die Rücklage weiterhin hoch und die Rentenanpassungen in diesem wie im vergangenen Jahr fielen überdurchschnittlich hoch aus. Die Renditeaussichten an den Kapitalmärkten hingegen sind völlig unsicher – und das mindestens noch für mehrere Jahre.

Infomagazin Seniorenbedarf: In einem klassischen deutschen Haushalt ist nach wie vor der Ehemann Hauptverdiener. Erziehungszeiten kann sich die Ehefrau zwar anteilig für ihre spätere Rente anrechnen lassen. Aber nach den vielen Jahren ohne berufliche Praxis haben es viele Frauen irgendwann schwer, einen Job zu finden, der vergleichbare Privilegien und Einkünfte mit dem des Mannes verspricht – was natürlich ebenfalls Auswirkungen auf Rentenzahlungen & Co hat. Wie lässt sich das verbessern? Manche Stimmen fordern, dass Kinder noch frühzeitiger in Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen gegeben werden, um den Eltern den Wiedereinstieg in den Beruf schneller zu ermöglichen. Bleibt da nicht die Eltern-Kind-Beziehung auf der Strecke?

Neumann: Auch hier brauchen wir flexible Lösungsoptionen. Wer nach der Geburt eines Kindes rasch wieder arbeiten möchte, muss dazu auch die Möglichkeit bekommen. Das setzt gute Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder voraus. Doch gerade viele Frauen stecken dann über viele Jahre in ungewollter Teilzeitarbeit fest. Da müssen wir ran. Und gleichzeitig brauchen wir Verbesserungen bei der rentenrechtlichen Anerkennung von Auszeiten – insbesondere wegen Kindererziehung oder auch familiärer Pflege.

Infomagazin Seniorenbedarf: Immer mehr Menschen arbeiten nicht bis zum Rentenbeginn in Vollzeit. Dadurch fällt ihre Rente geringer aus. Sind verbesserte Weiterbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten da eventuell ein Schlüssel, um eine uneingeschränkte Erwerbstätigkeit bis Rentenbeginn sicherzustellen?

Neumann: Keine Frage, wir brauchen Verbesserungen mit Blick auf alters- und alternsgerechten Arbeitsplätze – wozu auch zielgenaue Weiterbildungsmaßnahmen gehören. Das wird aber nicht für alle Beschäftigten ausreichen. Daher wiederhole ich in diesem Zusammenhang nochmal die Forderung nach einer realistischen Regelaltersgrenze und nach passgenauen Optionen für flexible und sozial abgesicherte Übergänge.

Infomagazin Seniorenbedarf: Eine offizielle Prognosen, die Andreas Nahles kürzlich an die Öffentlichkeit gegeben hat, befürchtet ein Absinken der Rente auf ein baldiges Rekordtief. Jetzt sollen die Beitragssätze für die Rentenversicherung angehoben werden. Ist eine adäquate Lösung für das Finanzierungsproblem?

Neumann: Derzeit sind die Möglichkeiten der Rentenversicherung zum Aufbau von Rücklagen sehr begrenzt. Das wollen wir ändern, damit die Rentenkasse eine Demografie-Reserve aufbauen kann. Immer, wenn die Einnahmen höher sind als die Ausgaben – so wie zuletzt, weil die geburtenstarken Jahrgänge überwiegend noch im Erwerbsleben stehen -, sollte eine Reserve für bessere Rentenleistungen aufgebaut werden. Das kann aber nur ein Baustein einer solidarischen Finanzierung sein.

So müssen wir die Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung weiterentwickeln, in der auch die zukünftigen Selbstständigen, Beamten und Parlamentarier versichert sind. Und versicherungsfremde Leistungen, wie etwa die „Mütterrente“, müssen gesamtgesellschaftlich aus Steuermitteln finanziert werden. Schließlich wird man auch an etwas höheren Rentenbeiträgen nicht vorbei kommen. Aber diese werden von den Menschen akzeptiert, wenn im Gegenzug die Leistungsseite der Rentenversicherung verbessert wird. Auch das hat unsere Infratest-Befragung eindeutig gezeigt.

Infomagazin Seniorenbedarf: Die sozialdemokratischen, ebnenden Wohlfahrtstaatssysteme in den skandinavischen Ländern werden oft mit der liberalen Marktorientierung der USA in den harten Vergleich gestellt. In welche Richtung sollte sich Deutschland aus Ihrer Sicht in den nächsten Jahren orientieren, welches von den Politikwissenschaften aktuell mit “meritokratisch und statuskonservierend” attributiert wird?

Neumann: Das deutsche Sozialstaatsmodell ist immer wieder kritisiert worden – teils zu Recht, teils aber auch zu Unrecht. Das betrifft etwa das ausgeprägte Äquivalenzprinzip, also den engen Zusammenhang von Beiträgen und Leistungen bei Rente und Arbeitslosenversicherung. Doch die Kritik an diesem Prinzip zielt vielfach schlicht auf den Leistungsabbau in diesen Zweigen der sozialen Sicherung. Das Prinzip der Äquivalenz, also der Leistungsgerechtigkeit, sollte auch zukünftig tragende Säule insbesondere in der gesetzlichen Rentenversicherung sein und daher gestärkt werden. Zugleich müssen aber auch neue Sicherungskonzepte erarbeitet werden, die auch bedarfsorientierte Komponenten ausbauen.

Infomagazin Seniorenbedarf: Was führt dazu, dass „Soziale Ungleichheit“ auch in Deutschland ein dauerhaftes Thema darstellt? OECD-Generalsekretär Angel Gurría warnte erst 2015: Noch nie in der Geschichte der OECD war die Ungleichheit in unseren Ländern so hoch wie heute.

Neumann: Wir müssen noch viel stärker über die Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands diskutieren und hier zu gerechten Lösungen kommen. Stattdessen aber wird den Menschen ein Generationenkonflikt eingeredet, Ältere und Jüngere werden gezielt gegeneinander in Stellung gebracht. Das ist mit den Gewerkschaften nicht zu machen! Denn der wahre Konflikt in unserer Gesellschaft verläuft eben nicht zwischen „Alt und Jung“ sondern innerhalb jeder Generation zwischen den verschiedenen Einkommens- und Vermögenssituationen.

Infomagazin Seniorenbedarf: Rente als Wahlkampfthema 2017 – das passt den Volksparteien offenbar nicht so gut in den Kram. Ihnen schon eher, oder?

Neumann: Die IG Metall hat die Zukunft der Alterssicherung zu einem ihrer zentralen Themen im Vorfeld der kommenden Bundestagswahl gemacht. Das brennt den Leuten auf den Nägeln – und zwar über alle Generationen hinweg. Auch die Jüngeren wollen für das Alter ausreichend und angemessen abgesichert sein. Deshalb haben wir eine Kampagne unter dem Motto „Mehr Rente – Mehr Zukunft“ gestartet und ein Rentenkonzept vorgelegt (zu finden unter www.mehr-rente-mehr-zukunft.de). Und wir werden die Politik nicht aus der Verantwortung lassen und fordern von den Parteien klare Positionierungen zur Zukunft der Rente vor der Wahl 2017.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrter Herr Neumann, welche Maßnahmen machen Deutschland sozial- und rentenpolitisch “zukunftsfähig”?

Neumann: Hier gibt es eine ganze Fülle an Themen, an die wir ran müssen. Neben der Rentenpolitik und da insbesondere dem gesetzlichen Rentenniveau und der Verhinderung von sozialem Abstieg oder gar Armut im Alter sind das etwa Verteilungsfragen, die aber in erster Linie über eine gerechte Steuerpolitik gelöst werden müssen. Und das ist die Finanzierung der Gesundheitskosten. Wir fordern die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es kann nicht sein, dass allein die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer stärker zur Kasse gebeten werden. Kurz: Wir brauchen eine verteilungs- und versorgungspolitische Neuausrichtung hin zu einer solidarischen Sozialpolitik.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrter Herr Neumann, haben Sie vielen Dank für das Interview.


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Die Kommentare und Meinungen unserer Leser (Leserbriefe)

  1. Anonymous kommentierte am 12. Dezember 2017 at 10:29

    Es sind auch in der Vergangenheit viel zu viele gesellschaftliche Aufgaben über die Rentenkasse finanziert worden. Auch im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung! Es gab Zeiten, da hatte die gesetzliche Rentenversicherung ein gutes Finanzpolster. Wenn man dieses Geld damals vernünftig angelegt hätte, statt immer wieder für diverse Wahlgeschenke vor den Bundestagswahlen darauf zuzugreifen, gäbe es heute in der GRV nicht solch große finanziellen Probleme. Meiner Meinung nach wäre eine vordringliche Aufgabe, das Geld vor dem Zugriff unserer Politiker zu schützen. Es sollte ein Riegel davor geschoben werden! Aber da unser Bundestag selber darüber entscheiden müsste, sehe ich schwarz dafür. Wer sägt sich schon den Ast ab, auf dem er sitzt!

  2. Gerhard Oechsler kommentierte am 8. Juli 2017 at 13:59

    Bravo, Herr Neumann!
    Endlich spricht einmal jemand aus, dass alle Erwerbstätigen, also auch Beamte und Parlamentarier gesetzlich versichert sein müssen.
    Und alle versicherungsfremden Leistungen, wie etwa die „Mütterrente“, gesamtgesellschaftlich aus Steuermitteln finanziert werden müssen.
    Es scheint doch so, als ob diese beiden Themen in den Medien tabu sind.
    Da geht es immer nur um ein ständig höheres Renteneintrittsalter, das die meisten nicht erreichen werden und um immer mehr private Säulen für die Altersvorsorge, die sich viele nicht leisten können.
    Österreich kommt ohne diese vielen Säulen aus, hat keine gesamtgesellschaftlichen Ausgaben die aus der Rentenkasse bezahlt werden, einen etwas höheren Beitragssatz für die Arbeitgeber und kann so fast doppelt so viel Rente gewähren.

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