Interview mit dem ehemaligen SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz zur deutschen Sozialstaatlichkeit: „Ich will mit der Benachteiligung von Frauen Schluss machen“

InterviewDie Bundestagswahl rückt täglich näher – und damit auch die Frage, welche programmatischen Standpunkte die einzelnen Parteien beziehen. Zustand und Zukunft des deutschen Sozialstaats interessiert uns als Redaktion dabei besonders, weswegen wir im Interview mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz genauer nachgefragt haben, wie sich die SPD zu den heute zentralen Problemstellungen der Sozialstaatlichkeit positioniert.

Martin SchulzZur Person:
SPDAls Kanzlerkandidat ist Martin Schulz dieser Tage der gefragteste Mann in der SPD. Der amtierende SPD-Vorsitzende war von 1994 bis 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2012 bis 2017 gar in der Rolle des EU-Parlamentspräsidenten. Der Nordrhein-Westfale fungierte zudem elf Jahre als Bürgermeister seiner Heimatstadt Würselen.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrter Herr Schulz, neoliberale Tendenzen scheinen vielerorts den Diskurs zu bestimmen. Wenn die Wirtschaft brummt und die Arbeitslosenzahlen gering sind, so die Argumente, würden die Sozialversicherungen ebenfalls von den steigenden Einnahmen profitieren. Dabei wird aber vergessen, dass die Sozialsysteme eher antizyklisch funktionieren – also gerade dann gebraucht werden, wenn die wirtschaftliche Situation schlecht ist. Wie beurteilen Sie diese Problematik?

Martin Schulz: Für mich ist ganz wichtig, dass der solidarische Schutz der elementaren Lebensrisiken immer gewährleistet ist. Die gesetzliche Rentenversicherung, die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung und die gesetzliche Arbeitslosenversicherung stehen dank einer guten Konjunktur und einem Höchststand an sozialversicherten Beschäftigten gut da. Wir müssen uns deshalb wirklich alle anstrengen, um Beschäftigung und anständig bezahlte und sozialversicherte Arbeit zu sichern. Dafür war der Mindestlohn ein Meilenstein. Genauso wichtig ist eine hohe Tarifbindung mit guten Löhnen. Dann bleiben die Sozialversicherungen bezahlbar und leistungsfähig. Mit der Bürgerversicherung und der Einbeziehung bisher nicht Versicherter in die Rentenversicherung verbreitern wir im Übrigen ihre solidarische Grundlage.

Infomagazin Seniorenbedarf: Der soziale Wandel stellt den Sozialstaat vor große Probleme. Je mehr die Normalerwerbsbiografie verschwindet, desto mehr erodiert die Grundlage der Sozialversicherungen. Sind Umlageverfahren und der Generationsvertrag langsam hinfällig? Oder ist die Politik aufgrund von Pfadabhängigkeit (also vor allem aufgrund der bereits erworbenen Ansprüche der Bürger) eigentlich handlungsunfähig?

Martin Schulz: Ich glaube, dass wir der Erosion der “Normalarbeitsverhältnisse” nicht tatenlos zusehen dürfen! Deshalb will ich beispielsweise die sachgrundlose Befristung abschaffen. Niemand kann die großen Lebensrisiken und die Absicherung im Alter alleine schultern. Wie krisenfest und leistungsfähig unsere Sozialversicherungen sind, sehen wir ja gerade sehr deutlich. Ein weiterer wichtiger Vorzug ist die Generationengerechtigkeit, weil die Sozialversicherungen gerade jüngeren Menschen Sicherheit für ihre Zukunft geben. Das setzt aber voraus, dass wir die Herausforderung in den Griff bekommen, wie wir mit der demografischen Entwicklung umgehen. Andrea Nahles und ich haben dafür gute Vorschläge gemacht.

Infomagazin Seniorenbedarf: Wie kann Deutschland mit dem “Gender Pension Gap” umgehen – also der Tatsache, dass Frauen aufgrund von Schwangerschaft, Kindererziehung etc. in der Regel weniger Rentenansprüche erwerben, als ihre berufstätigten Partner?

Martin Schulz: Ich will mit der Benachteiligung von Frauen Schluss machen. Für gleiche Arbeit muss es gleiche Bezahlung geben. Dafür haben wir mit dem Entgelttransparenzgesetz einen ersten Schritt erreicht, um die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern zu schließen. Frauen arbeiten heutzutage häufig in Teilzeit und weniger, als sie selbst wünschen. Um sie aus der Teilzeitfalle herauszuholen, brauchen wir das Recht zur Rückkehr zur Vollzeit, wie es Andrea Nahles vorgeschlagen hat. Zusätzlich muss aber unbedingt auch die Kinderbetreuung ausgebaut werden. Außerdem müssen wir familiengerechte Arbeitszeitmodelle ausbauen. Familien müssen unterstützt werden, wenn sie wegen der Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen Arbeitszeit reduzieren, wie es noch Manuela Schwesig vorgeschlagen hatte.

Infomagazin Seniorenbedarf: Als existenzielles Risiko gilt nach wie vor die Gefahr von Infomagazin Seniorenbedarf: In Deutschland gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohns, also aktuell etwa 1.000 EUR, zur Verfügung hat. Viele Rentner liegen unterhalb dieser Grenze, gehen notgedrungen Pfand sammeln, sind vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Sollte eine Gesellschaft ihre Altvorderen nicht in Form einer Mindestrente unterstützen?

Martin Schulz: Die wichtigste Weichenstellung gegen Armut im Alter sind zu allererst ordentliche Löhne in einer sozialversicherten Arbeit. Lohnpolitik ist auch immer Rentenpolitik. Drei Prozent der Menschen ab 65 Jahren beziehen Grundsicherung. Gefährdet sind vor allem diejenigen, die keine Berufsausbildung, zu wenig Erwerbsjahre, lange Phasen der Arbeitslosigkeit haben, oder erwerbsgemindert sind. Für uns muss der Grundsatz gelten: Wer jahrzehntelang gearbeitet hat, muss mehr haben als die Grundsicherung im Alter. Das ist eine Frage von Respekt und Wertschätzung. Dafür wollen wir die Solidarrente, die sicherstellt, dass jemand, der 35 Jahre oder mehr gearbeitet, und Beiträge gezahlt oder Kinder bekommen hat, nicht zum Sozialamt gehen muss

Infomagazin Seniorenbedarf: Beamtenpension und Rentenversicherung sind zwei getrennte Systeme. Ein Großteil unserer Leser zweifelt in diesem Zusammenhang an der Gerechtigkeit dieser Trennung, zumal Beamte schon nach wenigen Jahren hohe Altersbezüge erwarten dürfen. Wie stehen Sie zu dieser Debatte?

Martin Schulz: Zunächst will ich festhalten, dass viele Beamtinnen und Beamten weder über besonders hohe Gehälter noch über besonders hohe Pensionsansprüche verfügen. Polizistinnen und Polizisten oder die Beschäftigten in Melde- oder Finanzämtern erfüllen wichtige staatliche und hoheitliche Aufgaben bei durchschnittlichen Gehältern.

Zweifellos gibt es aber bei der Beamtenversorgung Vorteile gegenüber den abhängig und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die sich ihre Rentenansprüche durch Beitragszahlungen erarbeiten müssen. Uns ist wichtig, dass die Systeme der Altersversorgung der Beamtinnen und Beamten allmählich an die der Angestellten angeglichen werden. Das ist ein langer Prozess, weil für die meisten Beamten die einzelnen Länder zuständig sind.

Infomagazin Seniorenbedarf: Der sozialistische Präsidentschaftskandidat in Frankreich hatte bei der vergangenen Präsidentschaftswahl das bedingungslose Grundeinkommen auf seine Agenda genommen. Zieht die Sozialdemokratie in Deutschland bald nach?

Martin Schulz: Für die SPD ist ein bedingungsloses Grundeinkommen keine Option. Nicht arbeiten zu müssen, sondern sich auf die Arbeitsleistung anderer zu verlassen, das kann nicht richtig sein. Das entwertet auch die Leistung der Menschen, die arbeiten und damit auch ihre Lebensleistung. Deshalb steht die SPD zur Erwerbsarbeit als Schlüssel für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dazu gehört vor allem auch, seinen Lebensunterhalt selbst durch die eigene Leistungsfähigkeit zu erarbeiten. Wer sagt, es gäbe nicht mehr genug Arbeit, schiebt Menschen in die Perspektivlosigkeit ab und nimmt ihnen damit auch ein Stück ihrer Würde.

Infomagazin Seniorenbedarf: Nach dem Brexit und zunehmenden populistischen Tendenzen in ganz Europa stellt sich für viele die Frage nach der Zukunft der Europäischen Union. In Ihrem Buch “Der gefesselte Riese” pointieren Sie: “Entscheidend wird (…) sein, dass wir die Vertrauenskrise bewältigen, in der die EU und ihre politischen Eliten gegenwärtig stecken”. Was kann Deutschland in seiner Rolle als bevölkerungsstärkste EU-Nation dazu beitragen, dieses Vertrauen europaweit wieder zu gewinnen?

Martin Schulz: Es gibt für mich keinen besseren Platz auf der Welt als Europa. Freiheit, Demokratie und die Chance auf sozialen Fortschritt – das gibt es so nur hier. Das sind die Werte, die der Gründung eines vereinten Europas zugrunde liegen. Und für die die Sozialdemokratie seit mehr als 150 Jahren mit Herz und Verstand streitet. Wir erleben, dass gerade junge Menschen in Europa verstanden haben, dass etwas auf dem Spiel steht: Rechtspopulisten wollen ihre und unsere Zukunft kaputtmachen. Dem müssen wir alle entgegentreten. Das tue ich mit Leidenschaft, und als Bundeskanzler werde ich daran mitwirken, dass dieses Europa besser, effizienter und bürgernäher wird.

Infomagazin Seniorenbedarf: Angela Merkel regiert Deutschland als Staatsoberhaupt seit bald 12 Jahren. Wofür schätzen Sie die Bundeskanzlerin? Und aufgrund welcher Verfehlungen wollen Sie sie trotzdem im Amt ablösen?

Martin Schulz: Ich werde im Wahlkampf nicht über Frau Merkel reden, sondern über die Zustände in unserem Land – und darüber, was wir ändern müssen. Ich glaube, dass die SPD die besseren Konzepte hat, um unser trete mit dem Anspruch an, dass die SPD bei der kommenden Bundestagswahl die stärkste politische Kraft wird. Und ich trete mit dem Anspruch an, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Denn wir wollen, dass es in unserem Land gerechter zugeht.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrter Herr Schulz, haben Sie vielen Dank für das Interview.

Bildquelle: VTT Studio – Fotolia


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Die Kommentare und Meinungen unserer Leser (Leserbriefe)

  1. Gaby kommentierte am 20. Juli 2017 at 16:01

    Es ist völlig unverständlich, dass Frauen, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben, nur zwei Punke erhalten. Frauen die im Westen ihre Kinder groß gezogen haben, konnten mangels Kitas gar nicht ganztags arbeiten. Meist nicht einmal halbtags. Die Kindergärten, die Kinder ab dem 4. Lebensjahr besuchen konnten, öffneten um 7:45 Uhr und schlossen um 12:30 Uhr. Im Osten war es besser; die Kita-Versorgung eine Selbstverständlichkeit.

    Heute sind weitgehend Kinderbetreuungsplätze vorhanden. Die Frauen haben nicht mehr die erhebliche Benachteiligung in der Erwerbsfähigkeit. Ich würde mir eine Besserstellung der älteren Mütter wünschen und auch einen WEST-Ausgleich für die benachteiligten Mütter ohne Möglichkeit der Kinderunterbringung.

  2. Kai Warneke kommentierte am 14. Juli 2017 at 13:23

    Interessant ist, dass auf Länderebene seitens der SPD durch Zwangsverkammerung der Berufestände wie exam. Altenpfleger/innen, Kranken- und Gesundheitspfleger/innen und Kinderkrankenpfleger/innen, eines Teils ihres Lohnes beraubt werden, nur um ein weiteres bürokratisches System aufzubauen. Diese System wird sich dann qua Kammerrecht bzw. Gesetz gegen seine eigenen Mitglieder, also diejenigen die es finanzieren, bei “Verfehlungen” wenden müssen. Im Gegensatz zu Kammern des Handwerks (meist Männer), wo nur gegen die Meister in einem Betrieb vorgegangen werden kann. Hier werden die Pflegekräfte (fast 90% Frauen ) als Angestellte nun zusätzlich unter Druck gesetzt.

    Die Kammer wird nichts für Ihre Mitglieder, also hauptsächlich Frauen, die sowieso schon am Rande des erträglichen arbeiten, gegenüber der Verantwortlichen in Politik und Sozialversicherungen durchsetzen können. Denn nach Kammergesetz muss sich die Kammer absolut loyal gegenüber diesen Institutionen verhalten.

    PS: Kontrollinstanzen sind die jeweiligen Länder !!

  3. W.E. May kommentierte am 5. Juli 2017 at 17:10

    Wer der Benachteiligung von Frauen glaubhaft entgegenwirken will, muss dabei auch die DISKRIMINIERENDE Ungleichbehandlung von Müttern von vor 1992 geborenen Kindern bei der Anrechnung ihrer Erziehungszeiten abschaffen. Darüber, dass Müttern nach 1992 geb. Kinder drei Rentenpunkte angerechnet werden, hat sich noch niemand beschwert. Doch schon bei dem Angleichungsversuch um den einen Rentenpunkt (auf jetzt zwei) ab Juli 2014 haben die Parteien lange herumgezetert. Die Mütter von vor 1992 geb. Kindern werden auch weiterhin von der Politik diskriminierend benachteiligt. Und das in dem doch so reichen Deutschland! Wie geht das zusammen – diese Ungleichbehandlung bei gleichzeitigem Geprotze beim Steuergelderausgeben?

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