Interview mit Karl-Josef Laumann, Pflegebeauftragter der Bundesregierung: “Wir brauchen alleine schon aufgrund des demografischen Wandels einen Mentalitätswandel”

Interview

Pflegenotstand, Altersdiskriminierung, landärztliche Unterversorgung. Derzeit mangelt es nicht an brisanten Themen, die einen großen Teil der deutschen Bevölkerung direkt betreffen. Unsere Redaktion hat ein Interview mit Karl-Josef Laumann, Bevollmächtigter der Bundesregierung für Patienten und Pflege, geführt, um die Perspektiven und Standpunkte des CDU-Manns kennenzulernen.

Karl-Josef LaumannCDUZur Person:
Seit Dezember 2013 ist Karl-Josef Laumann als beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit Bevollmächtigter der Bundesregierung für Patienten und Pflege. Der gelernte Maschinenschlosser ist zudem seit Jahren Mitglied des Vorstands und des Präsidiums der CDU Deutschlands und Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA).

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrter Herr Laumann, der demografische Wandel schreitet mit jedem Tag stärker voran. Bis 2060 soll jeder dritte Deutsche über 65 Jahre alt sein. Sind wir als Gesellschaft dafür bereit?

Laumann: Bis zum Jahr 2060 vergehen noch 44 Jahre. Das ist – grob gesagt – ein halbes Menschenleben. Da kann noch viel passieren, so dass verlässliche Prognosen schwierig sind. Wer hat zum Beispiel vor zwei, drei Jahren mit Flüchtlingsbewegungen in diesem Ausmaß gerechnet? Laut den Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge waren 2015 rund 71 Prozent derjenigen, die einen Asylerstantrag gestellt haben, unter 30 Jahre alt. Wer kann heute schon sagen, wer von diesen Menschen am Ende in Deutschland leben bleibt? Aber natürlich tun wir alles, um uns auf eine alternde Gesellschaft vorzubereiten. Zwei Beispiele hierfür sind die Pflegereform und die Flexi-Rente.

Infomagazin Seniorenbedarf: Mit welchen Kampagnen kann man dem demografischen Wandel sinnvoll begegnen, um die umlagefinanzierten Sozialsysteme aufrechtzuerhalten?

Laumann: Kampagnen sind das eine. Aber vor allem kommt es darauf an, tatsächlich eine generationengerechte und vorausschauende Politik zu machen. Diejenigen Generationen, die heute in Rente gehen und ihr Leben lang hart gearbeitet haben, müssen sich darauf verlassen können, dass sie eine auskömmliche Rente erhalten. Auch müssen sie sich darauf verlassen können, dass sie durch die Leistungen der Pflegeversicherung unterstützt werden, wenn sie pflegebedürftig werden. Gleichzeitig dürfen wir die jüngeren Generationen nicht derart überlasten, dass sie sich selbst keine gute Zukunft mehr aufbauen können. Da gibt es nicht die eine große Lösung. Da gibt es eine Vielzahl von Stellschrauben.

Nehmen wir die Pflege: Dort haben wir den Großteil der Leistungen ausgeweitet und flexibilisiert und einen völlig neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff geschaffen, zugleich aber auch einen Pflegevorsorgefonds eingeführt, dessen Gelder dann eingesetzt werden sollen, wenn die sogenannte Babyboomer-Generation ins Alter der Pflegebedürftigkeit kommt. Das heißt: Wir verbessern die Situation der heutigen Pflegebedürftigen, sorgen aber natürlich auch vor.

Infomagazin Seniorenbedarf: Viele Experten warnen vor dem Pflegenotstand. Was lässt sich tun, um mehr Stellen zu schaffen, die auch besetzt werden? Wie lässt sich der Pflegeberuf populärer machen? Sie werben im Rahmen von „Generalistik jetzt!“ ja für eine generalistische Pflegeausbildung, was ist darunter zu verstehen?

Laumann: Wir brauchen eine moderne und attraktive Berufsausbildung in der Pflege. Die neue Ausbildung qualifiziert zur Pflege von Menschen aller Altersphasen und Lebenssituationen – egal in welchen Versorgungsbereichen. Und sie bietet den Pflegekräften anschließend vielfältige Einsatz- und Aufstiegsmöglichkeiten. Das stärkt die Pflege insgesamt, die auf Augenhöhe mit anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen stehen muss.

Darüber hinaus brauchen wir endlich auch in der Pflege flächendeckend Tariflöhne, eine Verbesserung der Personalsituation und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie weniger Bürokratie. Darum ist das von mir ins Leben gerufene Projekt zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation auch so ein Erfolg.

Infomagazin Seniorenbedarf: Die Pflegestufen werden bald auf Pflegegrade umgestellt. Warum hat man sich zu dieser Reform entschlossen?

Laumann: Weil es schlichtweg höchste Zeit für einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ist. Sehen Sie: Bei dem alten Begriff wird bei der Begutachtung der Pflegebedürftigkeit vor allem geschaut, wozu ein Mensch körperlich nicht mehr in der Lage ist. Das hat zu zwei Entwicklungen geführt: Erstens hatten wir eine sehr defizitorientierte Definition dessen, was Pflegebedürftigkeit ist. Und zweitens hatten gerade Menschen mit Demenz das Nachsehen, da der alte Begriff kognitiv-geistige Einschränkungen völlig unzureichend umfasste. Dabei ist es vom Ergebnis her das Gleiche, ob sich jemand kein Butterbrot mehr schmieren kann, weil er körperlich nicht mehr dazu in der Lage ist oder weil er schlichtweg vergessen hat, wie das geht.

Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff werden endlich auch kognitiv-geistige Einschränkungen vollumfassend in der Systematik der Pflegeversicherung berücksichtigt. Zudem spielt der Gedanke der möglichst eigenständigen Lebensführung sowie der Anleitung eine viel größere Rolle. Das alles findet sich in den neuen Pflegegraden wieder.

Infomagazin Seniorenbedarf: Bis 2021 geht fast die Hälfte der derzeitigen Hausärzte in den Ruhestand. Den Ärztenachwuchs zieht es eher in die Stadt. Wie begegnet man dem Problem der landärztlichen Unterversorgung?

Laumann: Indem wir mehr Ärzte ausbilden und sie besser verteilen. Denn die Zahlen geben in der Tat Anlass zur Sorge: Waren 1995 bundesweit noch rund 46.000 niedergelassene Allgemeinmediziner und praktische Ärzte in Deutschland tätig, sind es 2015 nicht einmal mehr 33.000 gewesen. Das ist ein Rückgang um etwa 30 Prozent. Auch die Zahl der Humanmedizin-Studierenden ist zurückgegangen: von rund 18.400 im Jahr 1993 auf knapp 16.400 im Jahr 2014. Hier müssen gerade auch die Bundesländer gegensteuern. Sie müssen die allgemeinmedizinische Ausbildung sowohl qualitativ als auch quantitativ stärken und vor allem die Zahl der Studienplätze erhöhen.

Auch brauchen wir an allen medizinischen Fakultäten Lehrstühle für Allgemeinmedizin. Zudem müssen die Kassenärztlichen Vereinigungen endlich von den Möglichkeiten Gebrauch machen, die ihnen der Gesetzgeber gerade in den letzten Jahren gegeben hat. Fast sämtliche Schranken für die Niederlassung im ländlichen Raum wurden beseitigt, fast alle möglichen Versorgungskonzepte können nun vor Ort umgesetzt werden.

Infomagazin Seniorenbedarf: Böse Zungen bemängeln eine zunehmende „Zweiklassengesellschaft“ zwischen Privatpatienten und gesetzlich Versicherten. In der Opposition gibt es Stimmen für eine „Bürgerversicherung“. Was halten Sie von diesem Alternativkonzept?

Laumann: Nichts. Das Zwei-Säulen-System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung ist mir lieber als die Fata Morgana Bürgerversicherung. Aus einer gewissen Tradition heraus ist dieses System bei uns entstanden. Und beide Zweige haben ihre Vor- und Nachteile. Ich will hier nur daran erinnern, dass in der Gesetzlichen Krankenversicherung Kinder automatisch mitversichert sind, während man in der Privaten Krankenversicherung eigene Beiträge zahlen muss. Für mich ist zudem klar: Es sind vor allem die gesetzlich Versicherten, die in erster Linie unser Gesundheitssystem finanzieren. Das muss sich natürlich auch in den Leistungen widerspiegeln.

Infomagazin Seniorenbedarf: Nicht nur die Künstlerin Isabella Rossellini klagt über Altersdiskriminierung. Geringschätzung und Ausgrenzung aufgrund eines hohen Lebensalters stellt für viele Deutsche ein Problem dar. Wie können wir das als Gesellschaft entschärfen?

Laumann: Ich glaube, wir brauchen alleine schon aufgrund des demografischen Wandels einen Mentalitätswandel. Wir sind eine alternde Gesellschaft. Zum Beispiel wird der Anteil der über 80-Jährigen auf absehbare Zeit immer weiter ansteigen. Da müssen wir Schranken beseitigen – im Kopf genauso wie ganz konkret in unserer Infrastruktur. Es muss ganz normal sein, dass Menschen mit Demenz an Geburtstagsfeiern und Volksfesten teilnehmen. Wir brauchen überall barrierefreien Wohnraum und öffentlichen Nahverkehr – um nur mal zwei Beispiele zu nennen.

Und warum gibt es gerade in der öffentlichen Verwaltung immer noch starre Altersgrenzen bei der Pensionierung, obwohl viele Menschen gerne länger arbeiten würden. Das führt etwa dazu, dass Spitzenforscher an den Universitäten ins Ausland abwandern. Nach dem massiven Ausbau der U3-Betreuung, der zweifellos richtig war, müssen wir zudem eine funktionierende Ü80-Struktur schaffen. Der Ausbau einer wohnortnahen Tagespflege ist hierzu ein ganz zentraler Hebel.

Infomagazin Seniorenbedarf: Was führt dazu, dass „Soziale Ungleichheit“ in Deutschland ein dauerhaftes Thema darstellt? OECD-Generalsekretär Angel Gurría warnte erst 2015: Noch nie in der Geschichte der OECD war die Ungleichheit in unseren Ländern so hoch wie heute.

Laumann: Hierzu gibt es ehrlich gesagt unterschiedliche Studien und Signale. Ich war selbst etwas überrascht, als der sogenannte ‚Global Wealth Report‘ kürzlich festgestellt hat, dass die Mittelschicht in Deutschland konstant geblieben ist. Weltweit ist die Mittelschicht sogar größer geworden, während Ober- und Unterschicht geschrumpft sind.

Andere Studien sind wiederum zu der Erkenntnis gelangt, dass die Mittelschicht immer weiter erodiert. Da ist es nicht einfach, den Überblick zu behalten. Klar ist aber: Eine Gesellschaft, in der die soziale Ungleichheit immer größer wird, hat auf Dauer ein dickes Problem. Darum arbeiten wir ja auch intensiv daran, unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen und gleichzeitig den Mittelstand, das Rückgrat unserer Wirtschaft, zu stärken.

Infomagazin Seniorenbedarf: 2017 sind Bundestagswahlen. Welche Weichen werden damit für die Arbeit des Bevollmächtigten für Patienten und Pflege gestellt?

Laumann: Die größte Herausforderung ist: Wie finden wir genügend Menschen, die sich um immer mehr Hochbetagte kümmern? Deshalb steht die weitere Stärkung der Gesundheitsberufe – insbesondere der nichtakademischen – ganz oben auf der Tagesordnung.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrter Herr Laumann, haben Sie vielen Dank für das Interview.


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