Die Agenda 2010 gilt als eine der weitreichendsten Reformen der jüngeren deutschen Geschichte. Insbesondere die Anpassungen am Arbeitsmarkt rund um Hartz IV spalten die Öffentlichkeit bis heute. Kritiker fragen: Wie konnte eine rot-grüne Bundesregierung den Wohlfahrtsstaat derartig beschneiden? Der Politikwissenschaftler Reimut Zohlnhöfer hat 2016 einen Artikel veröffentlicht, der spannende Einblicke in die Abläufe hinter dem Reformprojekt gibt.
Arbeitslosigkeit nach Wiedervereinigung bei über 4 Millionen Menschen
Deutschland Ende der 90er-Jahre. Nach der Wiedervereinigung 1989 stellte die Arbeitslosigkeit ein größer werdendes Problem in Deutschland dar. Mehr als 4 Millionen Menschen waren arbeitslos.
Die damalige Regierung aus CDU/CSU und FDP stieß zwar einige Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen an, die aber zunächst keine Auswirkungen hatten, was der Regierung Schröder (SPD/Grüne) vermutlich zum Wahlsieg 1998 verhalf. Diese hatte im Wahlkampf das Versprechen ausgegeben hatte, die Arbeitslosigkeit unter 3,5 Millionen zu bringen.
Im Oktober 2000 lag die Arbeitslosenzahl dann in der Tat bei nur noch 3,6 Millionen. Nachdem die Wirtschaft 2001 aber schwächelte, stieg auch die Arbeitslosenzahl wieder an. Es war daher absehbar, dass das Wahlversprechen, die Marke von 3,5 Millionen zu unterschreiten, bis zur nächsten Wahl in 2002 nicht einhaltbar war, sofern es nicht zu wirksamen Reformen gekommen wäre.
„Aktivierende“ Arbeitsmarktpolitik kommt ins Gespräch
Kommentatoren in der Presse sprachen sich zu diesem Zeitpunkt verstärkt für weitreichende liberale Reformen aus. Das soziale Auffangnetz für Arbeitslose und –suchende wäre ein zu teurer und zu wenig motivierender bzw. „aktivierender“ Apparat. Man müsse die Sozialsysteme „von der Hängematte zum Trampolin“ umfunktionieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Arbeitgebervertreter teilten diese Auffassung, während die SPD-nahen Gewerkschaften dagegen hielten. Die Arbeitsmarktpolitik, eines der Kernfelder der SPD, spaltete auch die Regierungspartei selbst: Der traditionelle SPD-Flügel war gegen liberale Reformen, die „Modernisierer“ schon eher gesprächsbereit.
Bernd Buchheit, Abteilungsleiter im Arbeitsministerium, versammelte daraufhin eine Expertengruppe von Regierungsmitgliedern aus Bund und Ländern, Fachleuten aus der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Diese trafen sich zu informellen Gesprächen in den Räumen der Bertelsmann Stiftung. Dadurch sollte weniger Aufmerksamkeit erzeugt werden, als wenn die Expertengruppe innerhalb des Arbeitsministeriums zusammengebracht worden wäre. Ähnlich wie bei Ausschusssitzungen, wollte man durch das nicht-öffentliche Format parteiübergreifende Positionen vertretbar machen, eine durchaus gängige und demokratietheoretisch legitime Praxis.
Die Expertengruppe sprach sich u. a. für eine Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe aus, für Veränderungen in den Leistungsstrukturen, sowie für eine Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien für die Aufnahme einer Arbeit.
Vermittlungsskandal 2002: Das Politikfenster für Reformen öffnet sich
Im Februar 2002 kam es dann zu einem Skandal, der das „Politikfenster“ für die späteren Hartz-Reformen öffnete. In einem Bericht des Bundesrechnungshofs wurde deutlich, dass substanzielle organisatorische Probleme in der Arbeitsmarktpolitik vorherrschten: Die Statistiken über Erwerbstätigkeit in Deutschland seien gefälscht. Leitmedien griffen dies auf breiter Front auf.
Es entstand Handlungsdruck. Der SPD-Führung war zu diesem Zeitpunkt zudem jedes Mittel recht, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Schröder bat eine weitere Expertenkommission unter Leitung von Volkswagen-Manager Peter Hartz als „Hartz-Kommission“ offiziell nach Lösungen für den Manipulationsskandal zu suchen, die parallel „die beste Aussicht auf Linderung der Arbeitslosigkeit hätten.“
Mir wurde klar, dass ich berufen wurde, um Schröder bei der Wiederwahl zu helfen
… wird Peter Hartz später zitiert.
Die Hartz-Kommission bestand aus 15 Mitgliedern: zwei Gewerkschaftsvertreter, einem Arbeitgebervertreter, zwei Sozialwissenschaftlern, zwei SPD-Politikern, einem Vertreter des Arbeitsministeriums – und sieben Mitgliedern aus der Wirtschaft: hauptsächlich aus Management-Beratungen und Wirtschaftskonzernen. Obgleich die Kommission offiziell zunächst nach Perspektiven für die Lösung des Vermittlungsskandals suchen sollte, schoss sie über das Ziel hinaus und schlug auch Lösungen für generelle Arbeitsmarktthemen vor. Die Regierung schlug damit sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe.
Politisches Kalkül ebnet den Weg für die Reformen
Kurz vor der nächsten Wahl war der Druck auf die Regierungspartei spürbar: Die Sorge um ein Scheitern bei der Wahl war parteiintern groß. Mandate standen auf der Kippe. Und selbst Gewerkschaftsvertreter waren nicht an einem Umschwung hin zu einer konservativen Regierung interessiert. Schröder machte sich im Wahlkampf für die von der Hartz-Kommission ausgearbeiteten Reformen stark – und gewann. Damit war auch der linke Flügel der SPD gewissermaßen ausargumentiert – der Wähler hatte die Reformpläne schließlich „bestätigt“.
Auch nach der Wahl im September 2002 – die SPD war mit 38,5 % gleichauf mit der CDU, konnte mit Bündnis90/Die Grünen aber wieder die Regierung bilden – blieb die Arbeitslosigkeit weiter ein Problemfeld. Dänemark und die Niederlande hatten parallel mit „aktivierender Arbeitsmarktpolitik“ Erfolge verzeichnet, was die Atmosphäre entsprechend beeinflusste.
Die konkreten Hartz-Reformvorschläge wurden von der Regierung im stillen Kämmerlein finalisiert, SPD-Fraktion und die Gewerkschaften waren hierbei nicht mehr beteiligt. Das passte vielen Genossen nicht in den Kram. Die Zustimmung innerhalb der Partei konnte Schröder letztlich trotzdem erwirken, indem er mit seinem Rücktritt drohte und zudem Zugeständnisse anbot, etwa die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Damit konnte er schließlich die Zustimmung seiner Partei zu den unpopulären Reforminhalten gewinnen.
Kuhhandel mit der Opposition gelingt
Da es sich um ein Zustimmungsgesetz handelte, brauchte Schröder jedoch auch die Mehrheit im Bundesrat, der von der CDU-Opposition dominiert war. In der CDU schien sich jedoch die Ansicht verbreitet zu haben, dass die Reform eine gute Gelegenheit sei, unpopuläre Entscheidungen auf den Weg zu bringen, ehe man selbst wieder in der Regierung sei und ebensolche Reformen erwirken müsse.
In Verhandlungen mit den CDU-geführten Ländern nahm die SPD-Regierung schließlich viele Versprechen zurück, die sie zuvor den eigenen Parteigenossen gemacht hatte, darunter fiel z. B. auch die Vermögenssteuer. Einzelne Konzessionen, die die Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren an den linken SPD-Flügel gemacht hatte, wurden im Bundesrat wieder aus dem Gesetz gestrichen.
Der Weg für die Hartz-Reformen war damit frei.
Bis heute werden die Hartz-Reformen kontrovers diskutiert. Die aktuellen Ausarbeitungen von Prof. Dr. Reimut Zohlnhöfer – die wir hier vereinfacht dargestellt haben – leisten u. E. einen wertvollen Beitrag zum politischen Erkenntnisgewinn.
Wie beurteilen Sie den politischen Prozess, der die Hartz-Reformen ermöglichte? Kommentieren Sie in unseren Leserkommentaren (weiter unten) mit!
Verwendete Bildquellen/Fotografen: Thomas Reimer, Izzetugutmen, Nuvolanevicata, Microgen, Igor Stevanovic/Bits And Splits, sowie Sebra – Fotolia
Agenda 2010 und
Hartz 4,größtes Sozial-
Verbrechen der BRD. Es waren nie 5 Millionen Arbeitslose,diese Lüge wird bis heute verbreitet.Die Sauerei,die vorallem die SPD zu verantworten hat.
Ich warte auf die Abschaffung,Aufarbeitung und Entschädiging dieses
Hartz4- Verbrechens.Vorher ist es unmöglich,nochmal SPD
zu wählen.Tausende von
Normalbürgern wurden zu
Arbeitssklaven und Almosenempfängern gemacht.Unverzeihlich.
Wer hat da entscheidend und machtvoll mitgewirkt: Angela Merkel! Peter Hartz äußerte sich kürzlich dahingehend, dass er im urprünglichen Entwurf ein deutliches höheres Alg II(ca. 120 – 150,- Euro mehr)vorgesehen hatte und die Kürzung auf die jetzige Höhe von der CDU und konkret von Angela Merkel persönlich durchgesetzt wurde, damit die CDU-CSU-Fraktion zustimmt. Dieser Aspekt wird auch hier nicht erwähnt. Gerade das wäre jedoch sehr wichtig, um deutlich zu machen, dass endlich die Regierung Merkel abgewählt werden muss, damit sich am menschenverachtenden HARTZ IV- System etwas bessert. Bis heute jedoch stellt sich diese Person gegen jede finanzielle Verbesserung für Hartz IV- und Grundsicherungsempfänger. Das zeigt deutlich die fortbestehende Hartherzigkeit dieser angeblichen “Christen”. Selbst in der CORONA-Krise sind die nicht bereit, den Bedürftigsten finanziell zu helfen – obwohl sie sonst die Milliarden nur so verteilen.
Anonymus
Man kann die Sache drehen und wenden wie man will: Hartz IV ist und bleibt ungerecht und sozial unausgewogen. Darüber hinaus ist Hartz IV mit die Hauptursache für den Niedergang der SPD und das Erstarken rechter Kräfte.
Das passiert, wenn Politiker versuchen “Gott” zu spielen.
Mich persönlich hat bei der Einführung von Harzt IV am meisten die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe und die Bedürftigkeitsprüfung zu Lasten der hart arbeitenden Ehegatten, sprich die Einführung von sogenannten Bedarfsgemeinschaften geärgert.
So können Sie voll berufstätig sein und dennoch gemeinsam in ehelicher Bedarfsgemenschaft nur auf Hartz IV – Niveau leben – das erzeugt extremen Frust bei demjenigen, der eigentlich ganz gut verdient, aber über den üblichen Ehegattenunterhalt hinaus finanziell in Anspruch genommen wird.
Bin mal gespannt, wie die schwächelnde SPD nun die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung durchsetzen wird?
Die ganze Geschichte ist noch komplizierter. In einem WDR-Talk mit der Moderatorin Böttinger erklärte eine damals in der HARTZ-Kommission arbeitende Verdi-Vertreterin: Wir beteiligten Mitglieder hatten ein differenziertes Lösungsmodell erarbeitet. Alle Seiten hatten ihre Interessenlagen gut miteinander / gegeneinander ausbalanciert. So wurde der Kompromiss an die Politik zurück gereicht. Als die politischen Entscheider den Kompromiss aber nachträglich bearbeiteten, war die von uns erarbeitete Urform später nicht mehr erkennbar. Wer da wohl letztlich entscheidend und machtvoll eingewirkt hat?
Hartz lV System einfach völlig ungerecht wenn man ..zig Jahre gearbeitet hat und dann dermassen arm dasteht ….betrifft ja nicht die Macher denn die haben ja ausgesorgt super SOZIALSTAAT KLASSE !!!
Agenda 2010 hat vor allem den arbeitenden Menschen geschadet. Ich denke da an 1€ Jobber und Leiharbeiter, Aufstocker und andere die im Rentenalter unter die Armutsgrenze fallen. Letztlich schadet es einfach nur der Gesellschaft und bringt sozialen Unfrieden in unser Land.
Es ist kein Wunder, wenn selbst überzeugte Demokraten sich angewidert populistischen Rattenfängern zuwenden.
Mir fehlen die Worte. Wird so also heutztage Politik gemacht? Wie kann man seine eigene partei und damit die “Regierungslegitimation” so hinter gehen?
Ich verstehe das mit “mir fehlen die Worte” nicht so ganz. Wozu fehlen die Worte?? Zu Allem? Auch die Gewerkschaften hätten sich anders verhalten können. Kollegin Kunkel-Weber als betrübliche Person – z.B. Hartz IV; Gewerkschaften anno 2002-2003; ein beklemmendes Kapitel der “Schröder Beihilfe”.
Agenda und Hartz IV haben der SPD und Gewerkschaften massiv geschadet.
bg h.s.