Interview mit Eva-Maria Welskop-Deffaa aus dem Bundesvorstand der ver.di: “Die gesetzliche Rente trägt das Dach, das uns im Alter vor Regen schützt”

Interview

14. September 2016. In den zurückliegenden Monaten stand die gesetzliche Rente zunehmend im Mittelpunkt unterschiedlicher Nachrichtenmeldungen. Schon jetzt gilt das Thema Rente als relevantes Wahlkampfthema bei den Bundestagswahlen 2017. Grund genug für unsere Redaktion führende gesellschaftliche Repräsentanten in einer Interviewreihe nach Inhalten und Standpunkten zu befragen. Als Mitglied des Bundesvorstandes der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ist Eva-Maria Welskop-Deffaa heute unsere Interviewpartnerin.

Eva-Maria Welskop-DeffaaverdiZur Person:
Als Mitglied im ver.di-Bundesvorstand verantwortet die Diplom-Volkswirtin Eva-Maria Welskop-Deffaa seit 2013 u. a. den Bereich Sozialpolitik. Zuvor war die dreifache Mutter Leiterin der Abteilung Gleichstellung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und zudem jahrelang Mitglied des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrte Frau Welskop-Deffaa, wir erhalten nahezu täglich Zuschriften und Kommentare von Bürgern, die mit dem deutschen Rentensystem in seiner jetzigen Form unzufrieden sind. Kann man hier von berechtigtem Unmut sprechen oder fehlt es den Leuten eher an Informationen und Vergleichswerten? So schlecht schneidet unserer Sozialstaat im internationalen Vergleich doch gar nicht ab?

Welskop-Deffaa: Am 1.1.2017 wird die “dynamische Rente” 60 Jahre alt – seit 1957 folgen die Renten der Lohn- und Produktivitätsentwicklung. Und ihre Finanzierung erfolgt im Umlageverfahren: Die Beschäftigten sichern sich mit ihren Beiträgen nicht nur Anwartschaften auf eine zukünftige Rente, sondern sie finanzieren ganz unmittelbar die Renten der Rentner von heute. Dieses Modell ist ein Erfolgsmodell und es setzt im internationalen Vergleich Maßstäbe. Allerdings haben die Rentenreformen der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts die Logik des Systems nicht unwesentlich verändert. An die Stelle der Leistungszusage der Adenauer-Rente setzte Riester die Zusage stabiler Beiträge. Seither ist das Rentenniveau – das Verhältnis der Rente des Standardrentners zum Durchschnittseinkommen der Beschäftigten – erheblich gesunken und das Versprechen, mit geförderter privater und betrieblicher Altersvorsorge könnte die Renten-Lücke geschlossen werden, hat sich nicht einlösen lassen.

Infomagazin Seniorenbedarf: Ist das System einer gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren in Anbetracht des demografischen Wandels denn überhaupt noch sinnvoll? Nach pessimistischen Schätzungen wird schon Mitte dieses Jahrhunderts ein Arbeitnehmer fast alleine für einen Rentner aufkommen müssen.

Welskop-Deffaa: Die Umlagefinanzierung braucht eine günstige Wirtschaftsentwicklung, um gute Löhne und gute Renten zu sichern. Sie profitiert von einer guten Arbeitsmarktentwicklung, denn sie braucht eine aktive Generation, die aus ihrem Erwerbseinkommen Beiträge zahlt. Ehrlich gesagt mache ich mir um die demographischen Verschiebungen keine allzu großen Sorgen. Sie kündigen sich lange an und lassen sich über eine gute Produktivitätsentwicklung abfedern. Kritischer betrachte ich die Entwicklung, dass in der nächsten Generation der Anteil des sozialversicherungspflichtigen Erwerbseinkommens am Lebenseinkommen immer kleiner wird. Immer mehr Menschen haben in ihrer Erwerbsbiographie Phasen der Selbstständigkeit oder sie arbeiten – neben dem sozialversicherungspflichtigen Job – als Werkvertragsnehmer. Die hier erwirtschafteten nicht sozialversicherungspflichtigen Einkommen fehlen für eine solide Finanzierung der Renten.

Infomagazin Seniorenbedarf: In Deutschland wird in letzter Zeit viel von den “drei Säulen der Altersvorsorge” gesprochen. Insbesondere liberal orientierte Parteien setzen neben gesetzlicher und betrieblicher Rente auf eigenverantwortliche Privatvorsorge. Ist das die Zukunft? Hat uns die Bankenkrise nicht gezeigt, welche Unsicherheiten existieren, wenn Geldanlagen von Privatunternehmen gemanagt werden?

Welskop-Deffaa: Das Bild von den drei Säulen gefällt mir nicht besonders gut – es führt zwar dazu, dass auf Hochglanz-Broschüren die Alterssicherung sehr hübsch als griechischer Tempel erscheint, in Wirklichkeit wissen wir aber, dass die gesetzliche Rente das Dach trägt, das uns im Alter vor Regen schützt und dank der kapitalgedeckten Vorsorge, die wir im günstigsten Fall betrieben haben, wachsen die Blumen die Vorgarten bunter. Jutta Schmitz vom Institut für Qualität der Arbeit hat bei unserer ver.di-Frauenalterssicherungskonferenz Anfang September die gesetzliche, die betriebliche und die Riester-Rente als eine Art Schicht-Torte dargestellt. Das scheint mir passender als das Säulen-Bild. Betriebliche und Riester-Rente sind die Sahneschicht und die Obststücke obendrauf. Gute Alterssicherungspolitik sieht für uns so aus, dass das Gros der Bevölkerung im Alter gut abgesichert sein muss, auch wo die Sahne und die Obst-Schicht fehlen.

Infomagazin Seniorenbedarf: In einem klassischen deutschen Haushalt ist nach wie vor der Ehemann Hauptverdiener. Erziehungszeiten kann sich die Ehefrau zwar anteilig für ihre spätere Rente anrechnen lassen. Aber nach den vielen Jahren ohne berufliche Praxis haben es viele Frauen irgendwann schwer, einen Job zu finden, der vergleichbare Privilegien und Einkünfte mit dem des Mannes verspricht – was natürlich ebenfalls Auswirkungen auf Rentenzahlungen & Co hat. Wie lässt sich das verbessern? Müssen Kinder etwa bald noch frühzeitiger in Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen gegeben werden, um den Eltern den Wiedereinstieg in den Beruf schneller zu ermöglichen?

Welskop-Deffaa: Der “klassische deutsche Haushalt” stand lange Pate bei der Gestaltung der Rentenversicherung: Die Rente des Mannes sollte im Alter für beide Ehepartner reichen. Und nach dem Tod des Mannes war die Frau durch die Hinterbliebenenversorgung abgesichert. Adenauer eröffnete den Frauen sogar die Möglichkeit, sich ihre Rentenbeiträge bei der Heirat zurückerstatten zu lassen, weil er es ungerecht fand, dass sie “umsonst” gezahlt worden waren, wenn die Frau nach der Heirat ihre Erwerbstätigkeit beendete und ihr dann die rentenrechtlichen Mindestanwartschaftszeiten fehlten.

Heute können wir uns in der Rentenversicherung immer weniger an diesem “Normalmodell” orientieren. Ehen scheitern, Frauen wollen erwerbstätig sein und Beruf und Familie verbinden. Sie erwarten von ihren Männern, dass auch sie sich um die Kindererziehung kümmern. Das Elterngeld setzt Anreize für eine partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit. Im Rentenrecht hinken wir mit der Ausgestaltung der Hinterbliebenenrente hier ein Stück weit hinterher. Indem eigene Einkommen bei der Witwenrente angerechnet werden, bestrafen wir die partnerschaftliche Aufteilung der Familienaufgaben. Für zukünftige Ehen empfiehlt der Deutsche Frauenrat daher das permanente Rentenanwartschaftssplitting.

Infomagazin Seniorenbedarf: Ab 2012 wird das Renteneintrittsalter schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben. Was hat das aus Ihrer Sicht für Auswirkungen?

Welskop-Deffaa: Wir erleben gerade, dass sich die Rentner immer stärker in zwei Gruppen aufteilen: Da sind auf der einen Seite diejenigen, die mehr oder weniger kontinuierlich in einem gut bezahlten, befriedigenden Job gearbeitet haben und die im Alter durchaus bereit sind, über 65 hinaus erwerbstätig zu bleiben. Und dann sind auf der anderen Seite die Kollegen und Kolleginnen, die ein Arbeitsleben voller Höhen und Tiefen durchgemacht haben, mit gefährlichen Arbeitsbedingungen, schlechter Bezahlung. Viele von ihnen halten schon heute die Erwerbstätigkeit nicht bis zum Renteneintrittsalter durch. Sie müssen eine Erwerbsminderungsrente beantragen oder – wenn sie in den letzten Jahren arbeitslos sind – droht ihnen die Zwangsverrentung mit 63 mit hohen Abschlägen. Wenn es nicht gelingt diese Zweiteilung zu überwinden – durch eine präventiv ausgerichtete soziale Lebenslaufpolitik – steckt in der Anhebung der Regelaltersgrenze erheblicher sozialer Sprengstoff.

Infomagazin Seniorenbedarf: Arbeitgeberverbände freuen sich über die Entwicklung am Arbeitsmarkt, die Zahl der Erwerbstätigen läge auf Rekordniveau. Ist das nicht Grund zur Freude?

Welskop-Deffaa: Der gute Beschäftigungsstand ist ein Grund zur Freude. Die Sozialpartner in Deutschland haben gemeinsam dazu beigetragen, dass sich nach der Finanzkrise der Aufschwung schnell wieder fortsetzen ließ. Wir dürfen allerdings nicht übersehen, dass wir auch in Deutschland eine verfestigte Langzeiterwerbslosigkeit haben, eine große Zahl von Menschen, die trotz guter Konjunktur über keine fairen Teilhabechancen am Arbeitsmarkt verfügen.

Infomagazin Seniorenbedarf: Die sozialdemokratischen, ebnenden Wohlfahrtstaatssysteme in den skandinavischen Ländern werden oft mit der liberalen Marktorientierung der USA in den harten Vergleich gestellt. In welche Richtung sollte sich Deutschland aus Ihrer Sicht in den nächsten Jahren orientieren, welches von den Politikwissenschaften aktuell mit „meritokratisch und statuskonservierend“ attributiert wird?

Welskop-Deffaa: Oje, die Politikwissenschaftler. Sie sind wirklich Weltmeister im Erfinden schwieriger Vokabeln. Ich habe aber auch ein Fremdwort anzubieten: Erwerbshybridisierung. Ich meine, unser soziales Sicherungssystem muss sich darauf vorbereiten, dass Erwerbsverläufe in Deutschland und Europa immer stärker von “hybriden Erwerbsformen” geprägt sein werden. Das heißt: Menschen wechseln zwischen abhängiger und selbstständiger Arbeit, und man kann einer Beschäftigung nicht sofort ansehen, ob sie selbstständig ist oder nicht. Das gilt vor allem für die neuen Jobs, die über Online-Plattformen vermittelt werden. Daher geht es nicht um skandinavisch oder amerikanisch, sondern darum, dass alle Formen der Erwerbstätigkeit in die Versicherungspflicht der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen werden müssen. Die Alpenländer Österreich und Schweiz haben uns da einiges voraus.

Infomagazin Seniorenbedarf: Was führt dazu, dass „Soziale Ungleichheit“ in Deutschland ein dauerhaftes Thema darstellt? OECD-Generalsekretär Angel Gurría warnte erst 2015: Noch nie in der Geschichte der OECD war die Ungleichheit in unseren Ländern so hoch wie heute.

Welskop-Deffaa: Das ist ein Thema für eine Doktorarbeit und lässt sich kaum in einem Satz beantworten. Aber zwei Aspekte will ich doch herausgreifen:

1. Heute heiraten Menschen viel „homogener“ als früher. Der Chefarzt heiratet nicht mehr die Krankenschwester, sondern die Oberärztin. Die Aldi-Kassiererin findet keinen Millionär, sondern ihren Kollegen aus dem Lager. Das Haushaltseinkommen der beiden Paare liegt daher wesentlich weiter auseinander, als wenn der Chefarzt die Kassiererin geheiratet hätte und der Lagerarbeiter die Oberärztin.

Und 2. Die Tarifbindung ist in den letzten 30 Jahren dramatisch zurück gegangen. Da ist die Einkommensspreizung programmiert. Zwischen tarifgebunden und nicht tarifgebundenen Unternehmen, aber auch zwischen Frauen und Männern.

Infomagazin Seniorenbedarf: In den Medien gerät unsere soziale Marktwirtschaft in ihrer heutigen Ausprägung zunehmend in die Kritik. Makroökonomische Kennzahlen wie das Bruttoinlandsprodukt und „grenzenloser Wachstum“ werden neben Klimaforschern und Sozialwissenschaftlern inzwischen auch von prominenten Volkswirten öffentlich hinterfragt. Wird es Zeit, dass wir aufhören das wirtschaftliche Wachstum zu idealisieren?

Welskop-Deffaa: Die Studie über “Die Grenzen des Wachstums” von Donella und Dennis Meadows, die 1972 im Auftrag des Club of Rome erstellt wurde, hat mich und meine Generation von Ökonomen stark geprägt. Ich habe 1977 angefangen zu studieren und habe die Aufbrüche der Entwicklungsökonomie an der Uni unmittelbar mit verfolgt. Gerade die Frage, ob man angesichts des dramatischen Bevölkerungswachstums überhaupt noch Kinder bekommen sollte, hat uns sehr beschäftigt. Auch 45 Jahre später zeigt sich, es gibt keine einfachen Antworten auf komplizierte Fragen. Die Reduktion der Geburtenrate bringt neue Probleme mit sich. Und auch der Umstieg von Atom und Kohle auf erneuerbare Energien ist kein Projekt für ein Jahrzehnt. Insgesamt kann man aber wohl sagen: Es ist gut, dass die schlichte Wachstumseuphorie der Nachkriegszeit vergangen ist und wir nach neuen Wohlstandsindikatoren suchen. Gesellschaftlich und individuell.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrte Frau Welskop-Deffaa, welche Maßnahmen machen Deutschland sozialpolitisch „zukunftsfähig“? Und was kann der Einzelne tun?

Welskop-Deffaa: Auf der sozialpolitischen Agenda steht aktuell unzweifelhaft die Rentendebatte ganz oben auf. Wir brauchen die Zusicherung eines Mindestsicherungsniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung über 2030 hinaus, damit die jungen Menschen von heute in die Leistungsfähigkeit des Rentensystems morgen vertrauen. Der Zusammenhalt der Generationen hängt eng mit dem Generationenvertrag in der Rente zusammen. Darüber hinaus brauchen wir einen neuen Konsens über die Bedeutung des arbeitsfreien Sonntags. Und wir brauchen eine Erbschaftssteuer, die die Startchancen der nächsten Generation etwas klarer vom Vermögen der Eltern entkoppelt.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrte Frau Welskop-Deffaa, wir bedanken uns für dieses Interview.


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Die Kommentare und Meinungen unserer Leser (Leserbriefe)

  1. Redaktion kommentierte am 29. Oktober 2016 at 19:31

    Liebe Redaktion, ist es möglich zu jedem Interview wie auch zu anderen Beiträgen das Erstellungsdatum beizufügen? Damit kann auch die Aktualität des Beitrages dokumentiert werden.
    Danke für Ihre Bemühungen im Voraus!

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