Ist eine verpflichtende Fahrtauglichkeitsuntersuchung für Senioren dringend geboten? Ein Interview mit Stefanie von Berg

Aufgrund diverser Unfälle ist eine politische Diskussion zur Fahrtauglichkeit älterer Menschen entbrannt. Unsere Interviewpartnerin Stefanie von Berg fordert dabei eine verpflichtende Fahrtauglichkeitsuntersuchung. Wir haben sie dazu genauer befragt.

Stefanie von BergZur Person: Dr. Stefanie von Berg ist seit Dezember 2019 Bezirksamtsleiterin in Hamburg-Altona. Sie war bereits ab März 2015 Mitglied der 21. Hamburgischen Bürgerschaft. Die promotiverte Pädagogin studierte u. a. in Osnabrück und Greifswald. (Bildquelle: Bündnis90/Die Grünen)

1.) Redaktion: Werte Frau von Berg, unsere Leser*innen haben zum Großteil schon ein stolzes Alter erreicht. Nun stellen Sie deren Fahrtauglichkeit in Frage. Was sind Ihre Argumente?

Stefanie von Berg: Es geht nicht darum, allen älteren Menschen pauschal die Fahrtauglichkeit abzusprechen. Ich gehe sogar davon aus, dass die allermeisten Senior*innen nach wie vor gut beim Autofahren zurechtkommen und voll fahrtauglich sind. Fest steht jedoch auch, dass sich ältere Menschen auf alters- oder krankheitsbedingte Leistungseinbußen einstellen müssen und ihr Verhalten entsprechend der veränderten Leistungsvoraussetzungen anpassen sollten. Das Altern geht nun mal mit individuellen kognitiven, sensorischen und physischen Veränderungen einher, die die Fahrtauglichkeit beeinträchtigen können. Schaut man auf die Zahl der Unfälle im Verhältnis zur Fahrleistung, die sogenannte kilometerbezogene Unfallbelastung, wird in der Statistik deutlich, dass die Risikogruppe mit dem höchsten Unfallfaktor die Gruppe der Senior*innen im Alter von 75 Jahren und älter ist mit einem Wert von 5,05. Erst mit deutlichem Abstand folgt auf Platz zwei die Altersgruppe der Fahranfänger*innen bis inklusive 20 Jahre mit einem Wert von 3,50. Die spektakulären Unfälle alleine in Hamburg in der jüngsten Vergangenheit – außerhalb der Waitzstraße! – sind traurige Beispiele. So zerquetschte eine 77-Jährige am 01.01.23 ihren 88-jährigen Ehemann beim Einparken an der Wand, während schon am darauffolgenden Tag eine Seniorin nicht ihre Garageneinfahrt traf, sondern in das Nachbarhaus raste.

Gleichzeitig erhöhte sich der Anteil der über 66-Jährigen an der Gesamtbevölkerung von 13 Prozent im Jahr 1990 auf 19 Prozent im Jahr 2019, laut Statistischem Bundesamt wird dieser Wert bis 2040 auf 26 Prozent steigen. Mit Blick auf die genannte Statistik und demografische Entwicklung scheint es nur sinnvoll, sich mit dem Thema Fahreignungstest auseinanderzusetzen – für die Sicherheit ALLER Verkehrsteilnehmer*innen.

2.) Redaktion: Ist er nicht übergriffig, aufgrund von Einzelfällen, die ein mediales Echo erzeugen, Rechte einschränken zu wollen? Immerhin hat jede*r den eigenen Führerschein auch (teuer) erworben, mit dem Versprechen, ihn bei allgemeiner Regelbeachtung auch zu behalten.

Stefanie von Berg: Angesichts von mehr als 20 sogenannter Schaufensterunfälle in den vergangenen Jahren kann an der Waitzstraße nicht von „Einzelfällen“ gesprochen werden, darüber hinaus spricht die Statistik über die kilometerbezogene Unfallbelastung eine eindeutige Sprache. Wir alle können froh sein, dass bei den Unfällen in der Waitzstraße bislang niemand verletzt wurde. Ziel einer Fahrtauglichkeitsprüfung ist es nicht, den Senior*innen die Fahrerlaubnis pauschal zu entziehen und sie in ihrer Mobilität zu beschneiden, sondern gezielt objektiv fahruntaugliche Personen zu identifizieren. Andere Länder machen uns das seit Jahrzehnten vor – dort ist es völlig üblich, dass ein Führerschein nicht auf Lebenszeit erworben wird.

Es geht also nicht darum pauschal Rechte älterer Autofahrer*innen einzuschränken, sondern es geht um mehr Sicherheit auf den Straßen und auf Gehwegen. Was ist denn mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit der anderen Verkehrsteilnehmer*innen?

3.) Redaktion: Ihre politischen Gegner*innen werfen Ihrer Partei, Bündnis90/Die Grünen, u. a. vor, als moderne Verbots- und Ideologiepartei einen internationalistischen Wertekanon durchzusetzen zu wollen, der durch selbstüberhebliche Überregulierung mehr Probleme schafft, als eigentlich lösen will. So auch durch einen Führerscheintest für ältere Menschen? Schließlich kann dieser auch in einem entwürdigenden Fahrverbot enden und ggfs. berufliche und logistische Probleme für die Menschen nach sich ziehen. Eventuell sind betroffenen älteren Menschen, die wirklich existentiell oder auch moralisch auf ihren Führerschein angewiesen sind, so aufregt, dass sie deswegen „durchfallen“.

Stefanie von Berg: Die allgemeine Verkehrssicherheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit aller Verkehrsteilnehmer*innen sind für mich wichtige Güter und stehen für mich – und hoffentlich auch für die Mehrheit der Gesellschaft – über den Interessen einzelner. Daher setze ich mich schon seit längerem dafür ein, dass wir an Konzepten für eine selbstbestimmte Mobilität im Alter arbeiten – auch ohne Auto. Das können z. B. Elektromobile sein, Shuttleservices oder besondere Taxenangebote. Gesellschaftlich und verkehrspolitisch ist da noch viel Potenzial, gerade weil selbstbestimmte Mobilität elementar für eine gesellschaftliche Teilhabe ist. Wir müssen uns aber nach Jahrzehnten der autogerechten Gesellschaft neuen Formen der Mobilität zuwenden, wo das erforderlich ist.

4.) Redaktion: Kommt nach dem Fahrtauglichkeitstest für Ältere der Fahrtauglichkeitstest für alle?

Stefanie von Berg: Mir geht es in erster Linie aufgrund der unumstößlichen Faktenlage darum, eine Debatte über das Autofahren im Alter anzustoßen, ich bin aber genauso offen für eine Überprüfung aller Führerscheininhaber*innen in regelmäßigen Intervallen.

5.) Redaktion: Haben Sie darüber nachgedacht, jene z. B. finanziell zu entlasten, die ihren Führerschein aufgrund eines Fahrtauglichkeitstests verlieren?

Stefanie von Berg: Eine finanzielle Entlastung derjenigen, die ihren Führerschein abgeben oder verlieren wäre denjenigen gegenüber ungerecht, die noch nie einen Führerschein besessen haben und immer schon mit anderen Verkehrsmitteln auf ihre eigenen Kosten unterwegs waren.

6.) Redaktion: Die letzten Worte gehören Ihnen, Frau von Berg.

Stefanie von Berg: Als Gesellschaft müssen wir die demografische Entwicklung einer immer älter werdenden Gesellschaft viel geplanter angehen. Ich würde mir wünschen, dass wir in Deutschland, einem ausgeprägten Autoland, weniger aufgeregt, schrill, emotional und ideologisch argumentieren würden, sondern sachlich. Denn – wie oben ausgeführt: Die Faktenlage ist eindeutig und unumstößlich.

Redaktion: Sehr geehrte Frau von Berg, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Lesen Sie auch das zugehörige Interview mit Klaus Wicher vom SoVD Hamburg.

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Die Kommentare und Meinungen unserer Leser (Leserbriefe)

  1. Guten Tag,
    die Forderung ist eine Frechheit. Zuerst sollte die Politik die Infrastruktur für eine Mobilität ohne eigenes Auto schaffen und den Alten nicht erst den Boden unter den Füßen wegziehen! Denn mal ehrlich: Wenn es andersherum passiert, stehen Generationen von Alten vor der Frage, wie sie irgendwo hinkommen, weil nichts passiert! Die Bahn ist jedenfalls aus finanziellen Gründen nicht dazu in der Lage, die ländlichen Dörfer und Kleinstädte alle anzufahren, oder stillgelegte Gleise wieder zu aktivieren. Hauptsache es kann sich wieder ein/e Politker/in ein Denkmal setzen, hier Frau von Berg!

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