Interview mit Nicola Beer, FDP-Generalsekretärin “Ludwig Erhardt wäre heute in der nach links gerückten CDU so isoliert wie Martin Luther im Vatikan”

Interview

Immer wieder stand die gesetzliche Rente in den vergangenen Wochen im Mittelpunkt unterschiedlicher Nachrichtenmeldungen. Schon jetzt gilt das Thema Rente als relevantes Wahlkampfthema bei den Bundestagswahlen 2017. Grund genug für unsere Redaktion führende Parteirepräsentanten in einer Interviewreihe nach Inhalten und Standpunkten zu befragen. So auch Nicola Beer, FDP-Generalsekretärin.

Nicola BeerFDP LogoZur Person
Seit Dezember 2013 ist Nicola Beer Generalsekretärin der Freien Demokraten (FDP). Die Rechtsanwältin aus Wiesbaden war von 2012 bis 2014 hessische Kultusministerin und ist u. a. Mitglied des Kuratoriums des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrte Frau Beer, wir erhalten nahezu täglich Zuschriften und Kommentare von Bürgern, die mit dem deutschen Rentensystem in seiner jetzigen Form unzufrieden sind. Ist dieser Unmut berechtigt oder fehlt es den Bürgern lediglich an Informationen und Vergleichswerten?

Beer: Ja, die Menschen sind zu recht sehr sensibel, wenn es um die Sicherung ihres Lebensabends geht. Sie spüren, dass das jetzige System angesichts der erfreulichen höheren Lebenserwartung und der demografischen Entwicklung nicht mehr zukunftsfähig aufgestellt ist: 2030 werden 100 Beitragszahler 96 Rentenempfängern gegenüberstehen. Das war vor 50 Jahren im einstigen Bundesgebiet noch ganz anders: auf sechs Beitragszahler kam nur ein Rentenempfänger. Zusätzlich hat die Große Koalition die Situation durch die Mütterrente und die Rente mit 63 weiter verschärft. Durchfinanziert ist das gerade einmal bis zum nächsten Jahr. Wie es danach weitergehen soll, steht bislang in den Sternen. Und das merken die Menschen, das lässt sie unruhig werden. Überfordert wird durch das derzeitige System vor allem die junge Generation; sie wird im bestehenden System deutlich höhere Beiträge zahlen müssen und dennoch deutlich geringere Renten erhalten.

Gleichzeitig verändert sich unsere Arbeitswelt, besonders durch die Digitalisierung. Die Beschäftigungsarten werden vielfältiger; Jobwechsel, Selbständigkeit, Arbeit von Zuhause, mal Teilzeit, mal Vollzeit, all das macht die Realität bunter. Hieran muss die Altersvorsorge angepasst werden, muss „enkelfit“ gemacht werden – weg vom Einheitsrentner, hin zu mehr Flexibilität durch ein Baukastenmodell aus gesetzlicher, betrieblicher und privater Vorsorge, das jeder nach seinen Vorstellungen gestalten kann. Ein individuelles Vorsorgekonto schafft dabei Überblick. Mit einem flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in die Rente wollen wir den Älteren ab 60 Jahren mehr Freiraum ermöglichen und gleichzeitig durch den Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen und der Beiträge an die Arbeitslosenversicherung bei Rentenbezug die längere Teilhabe am Erwerbsleben attraktiver machen. Wenn wir ferner mit dem Nachhaltigkeitsfaktor auf die demografische Entwicklung reagieren, die Rentenversicherung effizienter organisieren und versicherungsfremde Leistungen konsequent aus Steuermitteln finanzieren, schaffen wir eine generationengerechte, solide und verlässliche Altersvorsorge. Das allerdings muss man auch machen, und nicht an Symptomen herumdoktorn, wie die Bundesregierung das tut.

Infomagazin Seniorenbedarf: Neuste Reformpläne sehen eine Angleichung des Rentenrechts alter und neuer Bundesländer vor, also eine Vereinheitlichung des Rentenpunktesystems. Das ist doch begrüßenswert, oder?

Beer: 26 Jahre nach der Wiedervereinigung ist eine unterschiedliche Behandlung der Rentnerinnen und Rentner, übrigens auch der Beitragszahler in Ost und West nicht mehr gerechtfertigt. Wir Freien Demokraten wollen ein einheitliches Rentenrecht mit einheitlichem Rentenwert, einheitlichen Entgeltpunkten und einheitlicher Entgeltbemessungsgrenze. Damit gilt gleiches Recht für alle. Ob der Vorschlag der Bundesregierung in den Details diesem Anspruch genügt, bleibt abzuwarten. Es droht die Gefahr, dass nicht alle Betroffenen fair behandelt werden. Perspektivisch muss zudem eine Angleichung des Lohnniveaus in Ost und West das Ziel sein, so kann wirkliche Gerechtigkeit hergestellt werden. Diese Erkenntnis aber hat die Bundesregierung wie auch bei anderen Themen noch nicht verinnerlicht, dass vor einer Umverteilung erst einmal etwas erwirtschaftet werden muss.

Infomagazin Seniorenbedarf: Mit der Deutschland-Rente wird nach Riester und Rürup voraussichtlich ein neues staatliches Rentenprodukt auf den Markt kommen. Ist dieses Modell im Ansatz denn gut gedacht? Wie kommentieren Sie die Bemühungen um einen flexiblen Rentenübergang (“Flexi-Rente”)?

Beer: Wir brauchen nicht mehr staatliche Zwangsinstrumente, wie die Deutschlandrente, sondern attraktivere Bedingungen für private und betriebliche Altersvorsorge. Denn ein solcher Staatsfonds, in den alle zwangsweise einzahlen, garantiert keine Sicherheit vor staatlichem Zugriff auf diesen „Honigtopf“; das zeigen andere Länder, auch europäische, wo der Staat sich, als es finanziell eng wurde, an Staatsfonds bedient hat.

Stattdessen muss sichergestellt werden, dass sich Vorsorge immer auszahlt, das beugt Altersarmut vor. Deshalb sollten die Vorsorgeerträge nicht weiter voll auf die Grundsicherung im Alter angerechnet werden. Auch ist die Benachteiligung privater und betrieblicher Vorsorge durch die doppelte Heranziehung zu Sozialabgaben zu beenden. Die betriebliche Altersvorsorge muss vereinfacht werden, damit auch kleine und mittlere Unternehmen sie unproblematisch ihren Arbeitnehmern anbieten können, und der Diskontierungsfaktor dem gesunkenen Zinsniveau angepasst werden. Auch sollten staatlich geförderte Vorsorgemodelle, wie die Riesterrente, allen, inklusive Selbständigen, zugutekommen.

Die Flexi-Rente geht in die richtige Richtung, aber ausgerechnet hier agiert die Bundesregierung viel, viel zu zaghaft. Sie hängt noch zu sehr dem Ideal des Einheitsrentners nach. Zielführender ist der von den Freien Demokraten vorgeschlagene Weg: flexibler Renteneintritt ab dem 60. Lebensjahr. Wer länger arbeitet bekommt mehr, wer kürzer arbeitet bekommt weniger Rente; Wegfall aller Hinzuverdienstgrenzen neben dem Rentenbezug und steuerlicher Freibetrag für Einkommen aus privater und betrieblicher Altersvorsorge bei der Grundsicherung im Alter. Das bietet dem Einzelnen den Freiraum, den er für seine Lebensgestaltung im Alter braucht.

Infomagazin Seniorenbedarf: Insbesondere von Selbstständigen, Freiberuflern und Unternehmern wird das Thema Altersvorsorge oft vernachlässigt. Sollte man deutschen Arbeitgebern nicht mit mehr staatlicher Förderung oder Steuervergünstigungen wie in den USA unter die Arme greifen?

Beer: Um zu verhindern, dass Selbstständige, Freiberufler und Unternehmer später in Altersarmut geraten, sollten sie für eine Basisabsicherung vorsorgen müssen, dabei jedoch selbst entscheiden können, in welcher Form sie vorsorgen wollen. Sie sollen wählen können, ob dies privat, etwa im Rahmen einer steuerlich geförderten Basisrente, geschieht, oder ob sie freiwillig in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Alter vorsorgen. Zu solch einem Wahl- und Gestaltungsrecht bei der Vorsorgeform gehören neben Rentenversicherungsverträgen auch Fonds, Immobilien und Betriebsvermögen; aus letzterem müssen Unternehmer anerkannte Rückstellungen bilden können. Zudem muss das Ganze natürlich maximal bürokratiearm umgesetzt werden und es muss fünf Jahre Karenzfrist in jeder Gründungsphase geben. In den Genuss eines solchen Wahlrechts sollen alle Selbstständigen ohne obligatorisches Alterssicherungssystem sowie alle anderen selbstständigen Berufsgruppen kommen, die in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert sind. Die bisherige Pflichtversicherung dieser Personen in der gesetzlichen Rentenversicherung wollen wir dann abschaffen.

Infomagazin Seniorenbedarf: In einem klassischen deutschen Haushalt ist nach wie vor der Ehemann Hauptverdiener. Erziehungszeiten kann sich die Ehefrau für ihre spätere Rente anrechnen lassen. Aber nach den vielen Jahren ohne berufliche Praxis haben es viele Frauen schwer, einen Beruf zu finden, der vergleichbare Privilegien und Einkünfte mit dem des Mannes verspricht. Was natürlich auch Auswirkungen auf die spätere Rente hat. Wie lässt sich das verbessern, Frau Beer? Müssen Kinder noch frühzeitiger in Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen? Sollten Mütter gar auf das Stillen verzichten, um schnell wieder im Beruf einzusteigen?

Beer: Neben einem weiteren Ausbau flexibler und qualitätsvoller Einrichtungen zur Kinderbetreuung sollten wir vor allem die Chancen der Digitalisierung nutzen. Die veränderte Arbeitswelt von morgen bietet Freiheit und Flexibilität in jeder Lebensphase und kann Selbstverwirklichung ganz neu ermöglichen: Präsenz am Arbeitsplatz verliert an Bedeutung und selbst gestaltete, eigenverantwortliche Tätigkeiten nehmen zu, die Möglichkeiten flexiblen Wechsels zwischen Anstellung, Selbständigkeit und Unternehmertum mehren sich. Das beinhaltet auch größere Freiheit bei der individuellen Zeiteinteilung, was besonders Frauen zugutekommt, da die Vereinbarkeit von Beruf und Familie enorm erleichtert wird. Somit stellt sich oft nicht mehr die Frage, ob Kinder früher in die Krippe müssen, weil sich viele Frauen beruflich engagieren können, ohne dabei stets die eigenen vier Wände verlassen zu müssen. Entscheidend für Frauen ist, dass alle Elemente der erworbenen Vorsorgeansprüche, die sie in ihrem Leben angesammelt haben, kombiniert und mitgenommen werden können.

Infomagazin Seniorenbedarf: Die sozialdemokratischen, ebnenden Wohlfahrtstaatssysteme in den skandinavischen Ländern werden oft mit der liberalen Marktorientierung der USA in den harten Vergleich gestellt. In welche Richtung sollte sich Deutschland orientieren, welches von der Wissenschaft mit „meritokratisch und statuskonservierend“ attributiert werden?

Beer: Die Basis des Wohlstands – im Erwerbsleben wie im Alter – ist die Bildung. Menschen durch „Weltbeste Bildung für alle“ in jeder Lebensphase stark und eigenständig zu machen, das macht auch unser Wohlfahrtssystem zukunftsfähig. Gleichzeitig müssen wir bessere Bedingungen für unsere soziale Marktwirtschaft schaffen, damit stets genug erwirtschaftet werden kann, um auch diejenigen zu unterstützen, die sich in bestimmten Lebenssituationen nicht selbst helfen können. Das schafft soziale Gerechtigkeit, nicht Umverteilungssysteme, von denen die Sozialklempner sich ernähren. Dazu sollte der Staat die Einhaltung fairer Spielregeln sicherstellen, aber nicht stets Mitspieler sein wollen. Wir brauchen weniger Bürokratie, aber mehr Innovationsmut, wir brauchen den selbständigen, mündigen Bürger, der sein Leben selbst in die Hand nimmt und es nach seinen Vorstellungen gestaltet. Als Freie Demokraten haben wir Respekt für alle, die es geschafft haben, doch unser Herz schlägt für diejenigen, die neu einsteigen, neu anfangen, neu aufbauen, Neues ausprobieren wollen. Hier setzen wir mit unserer Arbeit an, hier wollen wir mit Bildung und Mut zu Innovation und Marktwirtschaft vorankommen.

Infomagazin Seniorenbedarf: Populisten sind dieser Tage schnell dabei, pauschal dem „Kapitalismus“ die Schuld für ökonomische und soziale Probleme zu geben. „Auch die ärgsten Feinde des Kapitalismus machen irgendwann Geschäfte mit ihm“, kontert Jan Willmroth in der Süddeutschen. Und ZEIT-Autor Armin Nassehi gibt zu bedenken: „Kapitalismuskritik arbeitet stets mit dem Glauben an die staatliche Regulierbarkeit ökonomischer Dynamiken“. Sollte man also aufhören den kapitalistischen Rahmen unseres Systems ständig zu hinterfragen?

Beer: Für Freie Demokraten steht nicht ein System oder eine Ideologie, sondern der Mensch im Mittelpunkt. Freiheit und Eigenverantwortung, Markt und Wettbewerb sowie soziale Verantwortung und ein starker Rechtsstaat sind für uns die Komponenten, die im Vordergrund einer funktionierenden und auch gerechten Gesellschaft stehen. Statt auf Kapitalismus oder Sozialismus setzen wir auf die Kraft echter sozialer Marktwirtschaft, die Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Aufschwung und Wohlstand beschert hat. Leider werden deren Prinzipien von interessierter Seite ständig weiter verwässert, sogar missbraucht. Ludwig Erhardt als Verfechter der sozialen Marktwirtschaft wäre heute in der nach links gerückten CDU so isoliert wie Martin Luther im Vatikan.

Infomagazin Seniorenbedarf: Frau Beer, warum sollte die FDP ab 2017 wieder Teil der Bundesregierung sein?

Beer: Wir wollen 2017 wieder zurück in den Deutschen Bundestag. Das ist kein Selbstläufer, aber wir sind auf einem guten Weg. Dabei steht eine Regierungsbeteiligung nicht im Vordergrund; seit dem Linksrutsch der Union haben wir nur noch mehr oder weniger am Kollektiv orientierte Parteien im Bundestag. Freie Demokraten wollen hingegen erreichen, dass Freiheit und Selbstverantwortung, Fortschritt und Innovation, soziale Marktwirtschaft und Wettbewerb sowie Rechtsstaat und auch Werteorientierung wieder eine starke Stimme im Deutschen Bundestag haben.

Infomagazin Seniorenbedarf: Sehr geehrte Frau Beer, haben Sie vielen Dank für das Interview.


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Die Kommentare und Meinungen unserer Leser (Leserbriefe)

  1. Anonymous kommentierte am 11. November 2017 at 11:56

    Dass die arbeitssituationen sich unmenschlich entwickelt und der Arbeiter rede von Arbeiter(die körperlich arbeiten) nicht von Büro arbeiten oder ähnliches nur noch als Schach Figuren auf dem brett hin her bewegt werden ! Nervlich belastet sind! Durch die Arbeit auch körperlich zum Teil bis 60 Jahre schon nicht mehr belastbar sind ! Was ja heute auch nicht normal ist über 30 Jahre in einer Firma gearbeitet hat mit dem Satz zum jubiĺäum konfrontiert wird wie kann mann es solange in einer Firma aushalten! Da weiss ich was auf unsere Kinder zu kommt In dieser unpersöhnlichen arbeitswelt( warum auch die krankheit burn-out sich so ausbreitet)da reden sie und reden sie um die Rente das die Menschen immer älter werden!was ja auch immer hochgerechnet wird (das ist die nachkriegsgeneration!) die Generationen danach sterben zum Teil schon vor Renten Beginn. Also macht das renten alter noch höher damit noch mehr gar nicht mehr in dem Genuss kommen die Rente anzunehmen, die fleißig eingezahlt haben damit unser Staat das Geld für andere Sachen mit vollen Hände ausgeben Kann!

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